Kalte Stille - Kalte Stille
als wolle er eins mit der Dunkelheit im Wagen werden.
Noch immer hielt er das Lenkrad umklammert, und das Herz schlug ihm bis zum Hals. Wie er sich erschreckt hatte, als er Licht in Nathalie Köpplers Wohnung gesehen hatte. Zuerst hatte er gedacht, Nathalie könne es am Morgen ihres Todes aus Versehen angelassen haben, aber dann hatte er einen Schatten hinter den Gardinen gesehen, und das Herz wäre ihm beinahe stehengeblieben.
Als er nun die junge Frau auf der Straße sah, wie sie zu Nathalies Fenster emporschaute und dann in ihren Wagen stieg, begriff er, dass sie dort oben gewesen sein musste.
Dieses verdammte Miststück hatte ihn zu Tode erschreckt. Dabei war er doch nur hierhergekommen, um in aller Stille um Nathalie zu trauern. Solange sie noch
nicht beigesetzt war, war dies der einzige Ort, an dem er sich ihr nahe fühlen konnte.
Er sah die Frau in ihrem Mini davonfahren und atmete auf. Sie hatte ihn nicht bemerkt. Das war gut so.
Sicherheitshalber hatte er sich ihre Autonummer eingeprägt. Besser, er stellte ein paar Erkundigungen über sie an. Vielleicht war sie harmlos, aber es konnte ebenso gut sein, dass sie von der Polizei war oder einen anderen Grund hatte, Nathalies Geheimnis nachzuspüren. Er durfte jetzt kein Risiko mehr eingehen.
O Gott, was hatte er nur getan! Es hätte niemals passieren dürfen. Aber er hatte sich einfach nicht mehr unter Kontrolle gehabt. Für ihn war die Begegnung mit Nathalie ein Zeichen gewesen. Er hatte so gehofft, durch sie endlich Frieden zu finden und von seiner Obsession befreit zu werden. Stattdessen war alles nur noch schlimmer geworden.
Carmen - wo immer sie jetzt sein mochte - hatte sich an ihm gerächt. Sie war in Nathalies Gestalt zu ihm zurückgekehrt, hatte ihn vollkommen durcheinandergebracht und ihn erneut ins Verderben gerissen. So krank ihm dieser Gedanke auch erschien, es war die Wahrheit.
Schuld ist wie eine Krankheit, dachte er. Sie zerfrisst jede Faser des Körpers wie ein tödliches Geschwür. Und es gibt keine Therapie dagegen .
Es gibt Taten, die unverzeihlich sind. Das hatte er endgültig begriffen. Nie würde ihm verziehen werden, genauso wenig, wie er sich jemals selbst würde verzeihen können.
Die Wunde, die Carmen ihm geschlagen hatte, würde nie verheilen. Im Gegenteil, sie plagte ihn immer wieder mit einem unerträglichen Juckreiz, und jedes Mal, wenn
er sich kratzte, riss sie erneut auf und brachte weiteres Unheil über ihn.
Carmen. Ständig musste er an sie denken. Bis in alle Ewigkeit schien sich ihr Bild in sein Hirn gebrannt zu haben. Ihr Bild in jener Nacht, als sie vor ihm gestanden und ihn aus ihren unergründlichen grünen Augen angesehen hatte. Er konnte sie förmlich riechen und ihre Stimme hören. Und wieder verspürte er den Stich, den ihm ihre Worte versetzt hatten. Wie weißglühender Stahl, der sein Herz durchbohrte.
Er schluckte und krampfte seine Finger um das Lenkrad. Es würde nie aufhören. Carmen würde ihn immer verfolgen. Der einzige Weg, damit klarzukommen, war, das Geheimnis unter allen Umständen zu wahren und in jeder Situation die Kontrolle zu behalten.
Keine weiteren Ausrutscher mehr!
Er sah zu Nathalies dunklem Fenster hinauf und empfand tiefes Mitgefühl und Reue.
»Ich habe das nicht gewollt«, flüsterte er und sah seinen Atem zu einem hellen Fleck auf der Windschutzscheibe werden.
Dann richtete er seinen Blick auf die freie Stelle, an der vor kurzem noch der rote Mini der jungen Frau gestanden hatte.
Jetzt lag alles an ihm. Er musste die Situation wieder unter Kontrolle bekommen. Um jeden Preis.
23
Das »Spinnrad« befand sich in einer kleinen Seitenstraße zum Fahlenberger Marktplatz. Es war die Art von Eckkneipe, die Jan unter anderen Umständen sicherlich nicht betreten hätte. Das hätte schon das Schild am Eingang verhindert: WIR SIND EIN RAUCHERCLUB stand dort zu lesen.
Drinnen war es laut, voll und stickig. Kaum ein Sitzplatz war noch frei. Dicke Rauchschwaden hingen in der Luft, in die sich die Gerüche nach schalem Bier, Holzpolitur und Schweiß mischten. Aus den Lautsprechern über der Theke plärrte Schlagermusik, Spielautomaten tuteten an den Wänden, und aus einem Flachbildfernseher dröhnte lautstark die Übertragung eines Fußballspiels.
Hieronymus Liebwerk erwartete sie an einem Nischentisch. Als er Jan erkannte, winkte er ihm zu und bedeutete den beiden Männern, bei ihm Platz zu nehmen.
Der alte Archivar schien sich in dieser Umgebung wohlzufühlen. Er saß in einem
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