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Kalte Stille - Kalte Stille

Titel: Kalte Stille - Kalte Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wulf Dorn
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den Rand des Waschbeckens gestützt. Sie starrte auf die abgeschnittenen Haare vor sich. Ihre Locken sahen aus wie ein pelziges Wesen, das sich auf dem weißen Email zusammengerollt hatte und eine Schere auf dem Rücken trug.
    Carla hob den kahlen Kopf und betrachtete sich im Spiegel.
    »Hallo, Sinéad«, sagte sie mit schwerer Zunge, dann griff sie sich die Weinflasche vom Beckenrand und nahm einen weiteren kräftigen Schluck. Sie sah zu dem Foto aus Nathalies Wohnung, das sie seitlich am Spiegel befestigt hatte.
    Nathalie und sie.
    Arm in Arm.
    Beide lachend.
    Beide im gleichen Kostüm.
    Wie Schwestern.
    Tränen schossen ihr in die Augen. Als sie sie mit dem Handrücken abwischen wollte, rutschte ihr die Weinflasche aus der Hand. Der dicke Vorleger verhinderte, dass die Flasche zu Bruch ging.
    Mit regloser Miene sah sie zu, wie der Wein aus der Flasche auf den Fliesenboden gluckerte und durch die Fugen kroch.
    Merlot, dachte sie. Ganz wie in alten Zeiten .
    Sie wandte sich wieder dem Spiegel zu, besah noch einmal ihr nun fremdartiges Ebenbild und öffnete dann das kleine Schränkchen daneben.

    Hinter Lippenstiften, Aspirinpäckchen und einem Fläschchen Mundwasser fand sie, was sie suchte. Jörg hatte sich stets nass rasiert - das sei gründlicher als mit einem Elektrogerät, hatte er ihr einmal erklärt -, und als sie ihre Beziehung beendet hatte, war das Rasiermesser eines von drei Dingen, die ihr Exfreund ihr hinterlassen hatte.
    Das zweite war ein Album voller Urlaubsbilder gewesen, das dritte eine tiefe Narbe in ihrem Herzen, verursacht von einem blonden Miststück namens Linda.
    Oder hatte sie Lisa geheißen?
    Vielleicht auch Lydia?
    »Scheißegal«, lallte sie ihrem Spiegelbild zu, das ihr nickend beipflichtete.
    Wichtig war, dass von Jörg doch noch etwas Positives zurückgeblieben war. Nämlich das Rasiermesser.
    Sie klappte es auf und sah es eine Weile an, als habe sie es noch nie zuvor gesehen. Der dünne Stahl leuchtete bläulich im Licht der Badezimmerlampe. Carla las den Schriftzug des Herstellers mit den beiden gekreuzten Schwertern und dachte darüber nach, ob das, was sie mit der Klinge vorhatte, richtig war oder falsch.
    »Ich hab Angst, Süße«, flüsterte sie dem Foto zu.
    Die Worte kamen ihr nur schwer über die Lippen. Teils weil sie betrunken war, vor allem aber, weil sie wusste, dass sie die Sache nur größer machen würde, wenn sie es aussprach. Dann war es nicht mehr bloß ein flüchtiger Gedanke, den man wegwischen konnte. Worte hatten immer etwas Endgültiges. Was gesagt war, war gesagt. Auch wenn man es nur zu sich selbst sagte.
    Nathalie lachte ihr weiterhin vom Foto zu. Nathalie als Morticia aus der Addams Family , die nun nie wieder ihr wunderschönes Haar scheiteln und das schwarze
eng anliegende Kleid anziehen würde. Nathalie, die sich aus Verzweiflung das Leben genommen hatte. Aus Furcht vor etwas, das sie als den »Dämon« bezeichnet hatte. Oder aus Furcht vor jemandem.
    Er ist real!!!
    Carla ließ die Klinge zwischen den Fingern im Licht wippen. »Aber wahrscheinlich hab ich jetzt nicht annähernd so viel Angst, wie du gehabt haben musst.«
    Sie sah zu der Weinflasche und der roten Lache am Boden hinab und bedauerte nun doch, die Flasche nicht rechtzeitig aufgehoben zu haben. Ein weiterer Schluck hätte ihr jetzt gutgetan.
    Andererseits wäre es nur eine Verzögerung gewesen. Sie wusste, was sie jetzt zu tun hatte. Es würde ihren ganzen Mut erfordern.
    Doch was man begonnen hat, soll man auch zu Ende bringen.

41
    Gleich nachdem Jan das Haus verlassen hatte und zum Dienst gefahren war, stand Rudolf Marenburg auf. Schwerfällig kletterte er aus dem Bett, schlurfte zum Fenster und zog die Vorhänge auseinander. Das kalte, graue Licht des frühen Morgens schmerzte in seinen Augen, und in seinem Schädel begann es noch heftiger zu pochen. Er hatte einen gotterbärmlichen Kater.
    Soweit er sich erinnern konnte, musste er sich mindestens die halbe Kiste Fahlenberger Schlossquellbier hinter die Binde gekippt haben. In jungen Jahren hätte er das
leicht weggesteckt, aber er war nun einmal keine zwanzig mehr.
    Trotzdem würde ihn kein Kopfschmerz der Welt von seinem sonntäglichen Ritual abhalten können. Auf wackeligen Beinen stieg er die Treppe zur Küche hinunter und fand auf dem Küchentisch eine Thermoskanne vor. Als er den Deckel abschraubte, dampfte ihm kräftiger Kaffeegeruch entgegen.
    »Guter Junge«, murmelte er und lächelte.
    Er goss sich eine große Tasse ein, spülte

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