Kalte Stille - Kalte Stille
ein leises »Ja« hörte, trat er ein.
»Hallo, Carla«, begann er, doch als er die junge Frau mit den langen dunklen Haaren sah, die mit dem Rücken zu ihm auf dem unbenutzt aussehenden Bett saß und aus dem Fenster starrte, hielt er inne.
»Oh«, sagte er, »guten Morgen. Tut mir leid, ich hatte Sie mit jemand …«
Wieder stutzte er, denn nun wandte ihm die Frau auf dem Bett das Gesicht zu. Es war in der Tat Carla Weller, auch wenn er sie zuerst nicht wiedererkannt hatte. Ihre Perücke sah täuschend echt aus, und ihr Gesicht wirkte wie verändert.
Es waren ihre Augen, die sie verrieten.
»Was, zum Kuckuck …«, keuchte Jan und starrte auf ihre bandagierten Handgelenke.
»Hallo, Jan«, sagte Carla und nickte ihm zu.
Jan ließ die Tür hinter sich zufallen. »Was hat das zu bedeuten?«
»Was soll was bedeuten?«, gab sie zurück und sah ihn herausfordernd an.
»Na, die Haare und … was hast du denn nur getan?«
»Ich habe mir heute Nacht die Pulsadern aufgeschnitten«, sagte sie in einem Tonfall, als ginge sie das alles nichts an.
»Ich weiß.« Jan schwenkte die Aktenmappe in seiner Hand. »Und du hast quer geschnitten.«
»Na und?«
Er schürzte die Lippen. »Du hattest nicht vor, dir das Leben zu nehmen. Andernfalls hättest du längs geschnitten.«
Sie schwieg und schlug die Augen nieder.
Jan schüttelte den Kopf. »Carla, Carla, warum machst du das? Und was hat die Perücke zu bedeuten?«
Sie strich mit der Hand über das glatte Laken und hob den Blick. »Du weißt doch genau, warum ich das getan habe.«
Jan schwieg betreten. Carla legte den Kopf zur Seite und fuhr sich durch das falsche Haar. »Erinnere ich dich an jemanden?«
Ja, wollte er sagen, du siehst aus wie Alexandra, so wie sie ausgesehen hätte, wenn sie nicht vor dreiundzwanzig Jahren in einen zugefrorenen See eingebrochen und ertrunken wäre .
Er verkniff sich diesen Kommentar, zog einen Stuhl heran und ließ sich darauf nieder.
»Carla, was soll das alles? Du wolltest dir doch nicht ernsthaft das Leben nehmen? Sonst hättest du nicht die Polizei gerufen.«
Carla sah ihn wieder mit ihrem herausfordernden Blick an. »Ich bin hier, weil ich herausfinden will, was man mit Nathalie gemacht hat.«
»Was man mit ihr gemacht hat?«
»Ja.« Sie stand vom Bett auf, ging zu Jan und setzte sich ebenfalls auf einen Stuhl. »Bis gestern habe ich es nicht wirklich glauben wollen, aber dann …« Sie machte eine hilflose Geste. »Ich meine, die Sache mit Ralf … Er war so sehr davon überzeugt, Jan. Er glaubte nicht, dass Nathalie zu einem Seitensprung fähig gewesen wäre. Ich habe ihm gesagt, dass das die einzig mögliche Erklärung sei. Aber inzwischen glaube ich das nicht mehr.«
»Ralf hat sich in etwas verrannt …«
»Nein«, unterbrach sie ihn. »Er hatte Recht. Nathalie ist einfach nicht der Typ dafür gewesen. Und es tut mir
so unendlich leid, dass ich seinen Verdacht nicht ernst genommen habe.«
Jan seufzte. »Deswegen schneidest du dir in die Handgelenke?«
»So konnte ich mir wenigstens sicher sein, dass man mich hier aufnehmen und nicht nur mit ein paar Pillen abspeisen würde.«
Abermals schüttelte Jan den Kopf.
»Jan, verstehst du denn nicht? Wenn man Nathalie in dieser Klinik wirklich etwas angetan haben sollte, wenn man sie gegen ihren Willen und vielleicht sogar ohne ihr Wissen zu etwas gezwungen hat, was sie sonst nie getan hätte, dann ist das der einzige Weg, es herauszufinden. Mit mir als Köder.«
Sie sprach hastig, so als fürchtete sie, Jan würde ihr ins Wort fahren und alles, was sie sagte, als Unsinn abstempeln.
Doch Jan ließ sie weiterreden, auch wenn ihm ihre Worte eine Gänsehaut bereiteten. Obsessives Verhalten infolge eines nicht verarbeiteten Traumas, dachte er. Diese Diagnose kommt dir doch bekannt vor, nicht wahr?
»Bitte, Jan.« Carla griff mit beiden Händen nach seiner Hand auf der Tischplatte. »Ich muss die Wahrheit herausfinden. Vielleicht irre ich mich. Vielleicht hat sich auch Ralf geirrt. Aber ich werde es nur herausfinden, wenn ich denselben Weg gehe, den Nathalie gegangen ist.«
»Was macht dich da so sicher?«, fragte Jan und sah auf ihre Hände, die ihn festhielten, als würde er sonst aufstehen und davonlaufen.
»Sagen wir einfach, es ist mein journalistischer Instinkt. Eine Art Recherche vor Ort. Undercover. Wenn es
hier tatsächlich jemanden geben sollte, der ihr etwas angetan hat, dann dürfte es ihn wohl ziemlich überraschen, wenn er plötzlich auf Nathalies
Weitere Kostenlose Bücher