Kalte Zeiten - Toporski, W: Kalte Zeiten
und Kasten verstreut, daneben die Pferde, tot oder sich aufbäumend. Neben uns, in den Büschen, steht eine Familie, panisch geflüchtet, mit nichts weiter als dem, was sie auf dem Leibe tragen. Der Junge blutet am Kopf, die Mutter hält ihn eng umschlungen und drückt ein Tuch auf die Wunde. Starr schauen sie zur Straße, wo sie soeben all ihre Habe, all ihre Hoffnung auf ein rettendes Ufer verloren haben.
Auch wir rühren uns nicht, bleiben versteckt hinter dem Wagen, ähnlich erstarrt wie die Familie neben uns. Wird man uns hier entdecken? Werden die Panzer ihre Rohre auch auf uns richten? Wird auch von unserem Wagen nichts übrig bleiben als Trümmer? Und wir? Was wird mit uns? – Wir stehen im Wald, nicht weit von der Straße. Die Bäume sind laublos und durchsichtig. Jeder kann uns von der Straße her sehen.
Aber nichts geschieht. Die Russen strömen vorwärts, um uns kümmern sie sich nicht. Sie haben nur die Straße freibekommen wollen und das haben sie erreicht. Ich zittere.
Ich weiß nicht, wie lange es dauert, bis wir begreifen, dass wir fürs Erste davongekommen sind. Aber da ist kein Aufatmen, keine Erleichterung. Da ist nur der Schrecken, das Grauen. Und da ist auch das merkwürdige Gefühl, als wäre das alles nur geträumt, als würde ich im nächsten Augenblick aufwachen und in meinem warmen Bett liegen. Doch es ist kein Albtraum. Es ist Wirklichkeit. Es ist etwas so Schreckliches geschehen, dass der Verstand es nicht fassen kann, dass er sich weigert, es hinzunehmen.
Die Panzer sind weg. Aber unsere Flucht ist zu Ende, es gibt keinen Weg in den Westen mehr. Die, vor denen wir fliehen wollten, haben uns überholt.
Mama ist unschlüssig, was wir tun sollen. Zur Hauptstraße will sie auf keinen Fall zurück. Und wohin sollen wir uns denn wenden? Nach Waly? Ist dort noch unser Zuhause? Oder in irgendeines der verlassenen Gehöfte in der Umgebung?
Ein Fuhrwerk. Mama spricht mit dem Fahrer.
»Zurück«, sagt er, »alles zurück – Befehl vom Russen.«
Es ist egal, ob das stimmt, wir haben sowieso keine Wahl. Soweit es irgend geht, hält Mama sich abseits der Straße, nimmt Feldwege. Es ist ungewohnt ruhig, so über Land zu fahren, ganz anders als vorher im Treck, wo immer Lärm war. Es sind nur noch wenige Wagen unterwegs, mehr sind nicht übrig geblieben.
Abends halten wir auf einem Hof, um zu übernachten. Er ist voll gestopft mit Menschen. Sie sind still. Sie sitzen auf Säcken oder Koffern oder sie hocken auf ein bisschen Stroh am Boden. Einige essen, andere starren mit kraftlos herabhängenden Armen vor sich hin. Mit Mühe findet Mama eine Nische, in die wir uns quetschen können.
Am Morgen geht es weiter. Wir müssen nun doch zurück auf die Hauptstraße, denn die Feldwege führen nicht bis Waly. Ich wage nicht hinauszugucken, aber manchmal muss ich es doch. Die Leiterwagen liegen rechts und links der Straße kaputt in den Gräben, dazwischen tote Pferde. Und tote Menschen. Ist es wirklich erst einen Tag her, dass wir hier entlanggefahren sind? Ist das wirklich diese Straße gewesen, mit den hunderten von Pferdefuhrwerken auf dem Treck nach Westen? Oder habe ich das in einer anderen Welt gesehen? Manchmal habe ich das Gefühl, als wäre das jetzt ein anderes Leben, eines, das mit dem früheren nichts zu tun hat.
Ich sitze mit Mara, meiner Puppe, im Wagen und irgendwann tut mir der Arm weh. Erst da merke ich, wie fest ich sie an mich drücke. Wenn ich nichts sehen will, lege ich die Hände vor die Augen, aber ab und zu spreize ich die Finger ein bisschen.
Auf der Straße ist jetzt wenig Verkehr. Ein Armeelaster kommt uns entgegen. Er hält, drei russische Soldaten steigen aus.
»Unter die Betten!«, zischt Mama nach hinten.
Von unten hören wir: »Stoj!«
Ich blinzle durch den Spalt zwischen den Decken und sehe, wie einer der Russen über die Radnabe auf den Wagen steigt. Er scheint fröhlich, haut der Mutter auf die Schulter und bückt sich ins Innere des Wagens. Ich verschwinde ganz in meiner Höhle. Aber natürlich hat er mich gesehen.
Ich höre, wie er irgendetwas sagt, was ich nicht verstehe, und dann kommt Mama und lässt uns absteigen. Ich habe Angst, dass sie uns jetzt alles wegnehmen, aber der Russe inspiziert nur den Wagen, mehr nicht.
»Wsio w parjadkie!« 5 , sagt er und nimmt mich dann ganz plötzlich auf den Arm. Ich verstehe kein Wort, aber seine Augen lachen und er ist nett. Er streicht mir über das Haar, und diesmal stört es mich nicht einmal, so
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