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Kalte Zeiten - Toporski, W: Kalte Zeiten

Kalte Zeiten - Toporski, W: Kalte Zeiten

Titel: Kalte Zeiten - Toporski, W: Kalte Zeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Toporski
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verlängert nur das Entsetzen.«
    Sie wendet sich zu uns und flüstert ganz behutsam: »Wir wollen uns …«
    Auf einmal kann sie nicht mehr weiterreden. Aber dann fährt sie dort fort: »Wir wollen uns auf den Weg in den Himmel machen.«
    Ich weiß, was das heißt.
    »Der liebe Gott wartet oben auf uns«, sagt sie ganz sicher. »Es ist nicht schwer.« Sie erklärt uns: »Wenn ich euch die Pulsadern aufschneide, läuft das Blut heraus. Dann wird euer Leben immer weniger, immer schwächer, bis es schließlich aufhört.«
    Ich sehe das Messer in Mamas Händen, ich kenne es und ich weiß, wie scharf es ist. Es blinkt in dem Licht, das aus einem der Fenster dringt.
    »Es ist wie bei einer Kerze«, sagt sie, »sie wird kürzer und kürzer, bis sie schließlich verlöscht.«
    Es liegt etwas Endgültiges in ihren Worten, und was sie sagt, scheint unausweichlich. Es geht nicht mehr anders, der Tod und das Töten um uns herum sind stärker als wir. Aber es spricht auch eine unendliche Liebe aus ihren Worten. Und obwohl ich genau weiß, was Mama meint, habe ich grenzenloses Vertrauen zu ihr: Das, was sie jetzt tun wird, ist richtig. Es ist das Beste, für uns alle.
    Plötzlich aber werden wir aufgeschreckt: »Halt! – Was machen?«
    Eine Schar Russen steht neben uns, spricht mit Händen und Füßen auf Mama ein, und ein junger Offizier versucht in leidlichem Deutsch, sie zu beruhigen: »Mutter mit Kindern tun wir nichts!«
    Sie führen uns ins Haus und zeigen Mama ein Bett, auf das wir Kinder uns legen können.
    Wir schlafen ganz ruhig.
    Als ich am nächsten Morgen aufwache, spüre ich ganz heftig, dass ich lebe. Bisher war das einfach selbstverständlich.
    Jetzt in der Frühe sind die Russen weg, stattdessen sind Polen da. Sie sind nicht von hier. Wir gehen hinaus und wollen anschirren, aber schon kommen sie gerannt und schreien uns an: »Raus aus Wagen! Raus, raus! – Mitnehmen nur, was tragen!«
    Wir ziehen an, so viel auf unsere Körper geht, und packen die Rucksäcke so voll, wie wir sie tragen können. Mama nimmt auch noch eine Tasche und hängt sich den Brotbeutel mit den letzten Essensresten an den Gürtel. Zu Fuß machen wir uns auf den Weg. Ich schaue noch einmal zum Wagen zurück: Dort ist auch Mara geblieben, meine Puppe! Aber Mara ist jetzt nicht mehr wichtig. Wichtig ist, dass wir beieinander sind, dass wir mit Mama den richtigen Weg finden.
    Der Wind ist schneidend. Wir hüllen uns tief in unsere Mäntel und ziehen die Mützen ins Gesicht. Ich habe über allen Sachen noch eine Pelzjacke an, die ist zwar schwer, aber sie hält warm. Meine Füße stecken in dicken Socken und die Hände in Handschuhen mit innen eingestrickter loser Wolle, so ist die Kälte zu ertragen. Bloß die blöden Strapse scheuern an den Oberschenkeln.
    Wir sind nicht die Einzigen unterwegs. Alle gehen tief gebeugt, einen Sack auf dem Rücken oder einen Koffer in der Hand, so kämpfen wir uns mühsam gegen den Ostwind, der uns die scharfen Eiskristalle des Altschnees ins Gesicht treibt. Ab und zu gehe ich einfach rückwärts, um die Kälte des Windes nicht so zu spüren. Aber das kann ich immer nur für kurze Zeit.
    Wolfi und ich haben Mama angefasst, Huppe geht, seinen Schulranzen auf dem Rücken, vorweg. Es ist mehr ein Stolpern als ein Gehen, was wir da tun. Wir laufen mechanisch, nur weiter, einfach vorwärts. Wohin, das ist egal, wenn wir nur irgendwann einen Unterschlupf finden. Ein Dach über dem Kopf. Vorher haben wir ein Ziel gehabt: meine Patentante in Stuttgart. Aber jetzt? Wir müssen zurück nach Waly, aber was wird dort? In unser Haus, sagt Mama, werden sie uns garantiert nicht mehr lassen!
    Es ist schon Nachmittag. Vor uns geht eine Frau neben einem kleinen Wagen mit einem russischen Panjepferd, das kaum mehr vorwärts kommt. An einem Hügel sehen wir, wie die Frau mitziehen muss, weil das Pferd es nicht schafft. Oben verschnaufen sie und wir holen sie ein.
    Wir Kinder dürfen uns obendrauf setzen, und es gibt sogar Betten, in die wir uns einmummeln können. Um uns herum nur Schnee und Kälte. Mama schiebt mit, wenn das Pferd nicht mehr kann. Aber auch sie fällt immer wieder hin.
     
    Abends erreichen wir ein abgelegenes Walddorf.
    Ein alter Pole öffnet uns die Tür und empfängt uns herzlich und warm. Er spricht Deutsch und begrüßt uns mit einem Bibelzitat: »Kommet, die ihr mühselig und beladen seid.«
    Es ist so unglaublich schön, in ein Haus hineinzugehen, irgendwo anzukommen, bleiben zu können und nicht mehr

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