Kalte Zeiten - Toporski, W: Kalte Zeiten
unterwegs sein zu müssen. Es ist warm und wir bekommen Milch. Ich genieße sie, wie ich lange nichts mehr genossen habe.
Es sind noch andere Menschen da, Frauen, viele mit Kindern. Ich liege in einer Ecke und schlafe schon fast. Um mich herum reden sie. Sie sprechen von Gott und von der Bibel. Und der alte Pole sagt: »Es steht alles in der Bibel geschrieben! Alles, was jetzt geschieht.«
Und dann liest er vor:
»Aus der Offenbarung des Johannes, Kapitel acht: ›Und der erste Engel posaunete. Und es ward ein Hagel von Blut und Feuer gemenget und fiel auf die Erde. Und das dritte Teil der Bäume verbrannte und alles grüne Gras verbrannte.
Und der andere Engel posaunete. Und es fuhr wie ein großer Berg mit Feuer brennend ins Meer. Und das dritte Teil des Meeres ward Blut. Und das dritte Teil der lebendigen Kreaturen im Meer starben und das dritte Teil der Schiffe wurden verderbet.
Und der dritte Engel posaunete. Und es fiel ein großer Stern vom Himmel, der brannte wie eine Fackel, und fiel auf das dritte Teil der Wasserströme und über die Wasserbrunnen. ‹«
Ich verstehe nicht, was das heißen soll, nur dass es schrecklich ist, so schrecklich wie alles, was wir in den letzten Tagen erlebt haben. Wir sind alle ganz still, nur die beschwörende Stimme des Alten ist zu hören. An den Großvater muss ich denken, wie er uns immer aus der Bibel vorgelesen hat. Und auf einmal fühle ich mich tief geborgen. Habe das Gefühl, als könnte mir gar nichts mehr passieren.
Am nächsten Morgen weckt uns der Alte.
»Steht auf! – Beim Dorf rotten sich welche zusammen. Fremde, ich kenne sie nicht. Sie werden plündern wollen«, warnt er.
Zu Fuß machen wir uns auf. Es ist nicht mehr weit bis Waly.
EIN LICHT VERLÖSCHT
Wenigstens das haben wir geschafft: Wir sind wieder in Waly. Allerdings nicht auf unserem Hof, sondern in irgendeiner Bruchbude.
Wie eng das hier ist! »Haus« kann man das kaum nennen. Das Gebäude ist halb eingefallen, nur ein Raum ist noch stehen geblieben, und da waren schon zehn Personen drin, ehe wir auch noch hineingepfercht wurden. Dicht aneinander gedrängt verbringen wir die erste Nacht und wir können uns kaum bewegen. Aber ich kann inzwischen überall schlafen, egal wie und wo.
Am frühen Morgen schrecke ich zusammen – die Tür fliegt auf und jemand schreit: »Raus, raus! Arbeiten!«
In der Öffnung steht ein Mann mit Mütze und rotweißer Armbinde und deutet auf alle Frauen: »Mitkommen!«
Dann fliegt die Tür wieder zu und wir sind allein. Allein mit vier anderen Kindern, die genau wie wir auf die zugefallene Tür starren, hinter der soeben unsere Mütter verschwunden sind. Wer weiß, wohin.
Es ist auf einmal ganz still, keiner sagt etwas. Durch die kleinen Fenster hier dringt kaum Licht, der Raum ist düster. So düster wie unsere Stimmung.
Kalt ist es auch. An der einen Wand steht zwar ein Ofen, aber es gibt kaum Brennmaterial, und mit dem bisschen, was da ist, müssen wir bis zum Abend warten, wenn – hoffentlich! – unsere Mütter wiederkommen.
Wir sitzen in der Eiseskälte und drängen uns aneinander, um uns gegenseitig wenigstens ein bisschen Wärme zu spenden. Viel nützt es nicht und mir klappern die Zähne. Nach einer Weile hört das auf, anscheinend gewöhnt man sich an alles!
Hunger habe ich.
Wolfi fragt: »Haben wir noch was zu essen?«
Ich inspiziere Mamas Brotbeutel.
»Ganz wenig!«
Wir teilen den Inhalt und lassen ein Viertel übrig: Für Mama, wenn sie heimkommt.
Die Wirkung dieser Mahlzeit ist bescheiden: Wenn ein Löwe eine Möhre frisst, muss er ungefähr so satt sein wie wir! Es dauert nicht lange, bis uns allen wieder der Magen knurrt. Wir sitzen, hungern, frieren, dösen und warten. Und hoffen, dass Mama wiederkommt. Bis zum Abend.
Gott sei Dank steht sie abends dann tatsächlich in der Tür. Aber es ist kaum ein Stehen! Fast fällt sie, als sie sich zu uns setzt.
»Was ist, Mama?«, frage ich erschrocken.
Sie muss erst einmal zu sich kommen. Dann sagt sie: »Es ist so grausam kalt.«
Gemeinsam versuchen wir, sie aufzuwärmen. Wir kuscheln uns an sie, ich reibe ihr vorsichtig das Gesicht und Huppe die Füße. Dann holen wir den Brotbeutel mit dem kleinen Rest und lassen sie essen.
Eine von den anderen Frauen macht Feuer. Der Torf, den sie auf das angezündete Reisig legt, heizt zwar den Raum nicht besonders, aber der Ofen strahlt immerhin ein bisschen Wärme aus.
Mama mag nicht reden. Nur wenig berichtet sie: Wie sie die Toten in der hart
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