Kalte Zeiten - Toporski, W: Kalte Zeiten
endlich: »Ich gehe da hin!«
Władka nickt. »Klar musst du das.«
Sie kramt ein paar Flaschen zusammen, zwei große und zwei kleine. Die werde ich mitnehmen.
»Und wo genau ist diese Baracke?«, frage ich.
Sie erklärt mir den Weg. »Aber lass dich nicht erwischen, geh abseits!«, rät sie mir. »Bloß durch die Stadt, da musst du halt durch!«
Am nächsten Morgen koche ich mit der alten Staffa eine Menge Kamillentee im großen Kessel. Auch früher, als der Krieg noch nicht bis zu uns vorgedrungen war, haben wir im Sommer immer Kamillenblüten gepflückt und für den Winter getrocknet. Die hier hat Staffa gesammelt, und wehmütig ziehe ich den Duft ein, der mich so sehr an zu Hause erinnert. Zu Hause, das ist hier so nah – und doch so unerreichbar fern!
»Jetzt rein in die Flaschen! Aber langsam, damit sie nicht platzen!«
Ich verbrühe mir erst mal die Finger, als wir nur mit der Kelle und ohne Trichter die Flaschen füllen wollen. Die Luft durch die Zähne ziehend und mit der verbrühten Hand durch die Luft wedelnd, stehe ich erst einmal da, bis es wieder geht. Aber wir schaffen es. Zusammen mit ein paar Scheiben Brot kommen die Flaschen in den Rucksack und dann geht’s los.
»Und sieh dich vor auf dem Weg!«, sagt die alte Staffa.
Wir haben schon November, und es ist das mieseste Wetter, das ich kenne! Immer wieder bläst mir der Sturm von der Seite Regenschwaden ins Gesicht, feinen Nieselregen, aber so dicht, dass es nicht lange dauert, bis ich durch und durch nass bin. Es ist kalt. Ich beuge mich vor und mache mich klein, um Wind und Regen keine Angriffsfläche zu bieten. Das Gehen wird zur Qual. Die Schuhe, die mir Władka geliehen hat (aus meinen bin ich längst herausgewachsen), sind so groß, dass ich sie fast verliere. Obendrein schlappen sie und scheuern und ich halte es vor Schmerzen nicht mehr aus. Schließlich setze ich mich auf einen Stamm am Wegrand, ziehe die Schuhe aus, stopfe sie zu den Flaschen in den Rucksack und gehe barfuß weiter. Riesige aufgeplatzte Blasen sind an beiden Fersen, und mir ist jetzt kalt an den Füßen, aber das ist immer noch besser als die Schmerzen, wenn die Schuhe an den offenen Blasen reiben!
Ich halte mich abseits der Straßen, gehe über Feldwege, Wiesen und abgeerntete Felder, so, wie Mama wohl auch gegangen ist. Sorgsam spähe ich nach vorn, um niemandem in die Arme zu laufen. Man kriegt Adleraugen mit der Zeit, wenn man so leben muss wie wir! Aber der Weg ist lang, elend lang! Es regnet unentwegt, der Wind bläst und es ist kalt, auch wenn ich schnell gehe. Zwischendurch habe ich manchmal Angst, dass ich es nicht schaffen könnte, aber dann beiße ich buchstäblich die Zähne zusammen, das hilft. Nach mehr als zwei Stunden tauchen die ersten Häuser aus dem diesigen Grau auf. Aber ich muss weiter, quer durch die ganze Stadt. Zum Glück ist bei diesem Sauwetter keiner draußen, der mich schnappen könnte!
»Czego tutaj?« 11 , herrscht mich der Pförtner an der Krankenbaracke an.
Ich erkläre ihm, was ich will, mit einem Gemisch aus Polnisch und Deutsch.
»Kinder dürfen hier nicht rein!«, bekomme ich mürrisch zur Antwort.
»Aber ich muss doch meine Mutter besuchen! Ich habe etwas für sie!«
Er lässt sich nicht erweichen. Am Ende wird es ihm zu viel und er blafft mich an: »Hau ab!«
Was soll ich tun? Mit hängenden Schultern schleiche ich fort. Aber eines will ich noch versuchen! Sobald der Pförtner mich nicht mehr sehen kann, gehe ich zur Rückseite der Baracke, um herauszufinden, ob es dort noch einen Eingang gibt. Da ist zwar einer, doch davor ist ein hoher Zaun mit Stacheldraht, und ich habe keine Chance, hinüberzugelangen. Wieder kommen mir die Tränen, sie verschleiern meine Augen. So stehe ich da und weiß nicht mehr, was ich tun soll.
Da taucht aus dem Schleier plötzlich jenseits des Zauns eine Gestalt auf!
»Deine Mutter hat dich gesehen«, flüstert jemand leise und auf Deutsch, »aber sie ist noch zu schwach und kann nicht kommen. Hast du etwas für sie? Ich bringe es ihr.«
Auf einmal wandelt sich das Grau der Welt in reines Glück! Erleichtert und voller Freude reiche ich erst die Flaschen über den Zaun, dann das Brot. Keine Tränen mehr, ich kann wieder klar sehen! Mama lebt! – Bloß dass ich sie nicht habe treffen können, schmerzt ein bisschen. Aber das ist beinahe egal: Immerhin habe ich ihr helfen können!
Der Regen und die Kälte, der ganze lange Rückweg, und dazu noch barfuß: In meiner Freude nehme ich das
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