Kalte Zeiten - Toporski, W: Kalte Zeiten
alles gar nicht richtig wahr!
Dass ich keine Schuhe mehr habe, daran habe ich mich fast schon gewöhnt. Lange konnte die alte Staffa meine Kinderschuhe noch reparieren, wie sie überhaupt so ziemlich alles flickt und näht und heftet und hämmert. Überhaupt: Wer etwas findet, ob Nagel oder Garn, Knopf oder Bindfaden, Draht oder Brett, der bringt es zur alten Staffa, die inzwischen einen kleinen Vorrat von solchen Dingen angelegt und sorgfältig im Stroh verborgen hat. Nicht immer sind es »Funde«, denn manches, was wir dringend brauchen, aber nicht besitzen, nimmt man auch schon mal unauffällig mit. Geht dann einem von uns irgendetwas entzwei, hilft die Alte. Bei meinen Schuhen aber war nichts mehr zu machen, sie waren nicht nur kaputt, sondern ich war auch herausgewachsen, und andere Schuhe gab es nicht mehr. Alles, was wir am Leibe tragen, ist zerschlissen und fängt an zu zerfallen.
»Im Winter kannst du nicht so rumlaufen«, befindet die alte Staffa.
»Aber was soll ich machen?«, frage ich.
Sie geht an ihre Schatztruhe und kramt ein paar Lumpen zusammen.
»Pass mal auf!«
Ich strecke ihr meinen Fuß entgegen.
»So musst du das drumwickeln, damit es hält«, sagt sie und zeigt es mir.
Und wirklich – es funktioniert!
Wie Mama uns fehlt! Solange sie da war, kümmerte sie sich um alles, jetzt müssen wir selber sehen, wie wir durchkommen. Wolfi kämpft immer noch mit den Nachwehen seiner Krankheit und liegt mehr auf dem Lager, als dass er herumläuft. Huppe und ich tun für ihn, was wir können, aber tagsüber sind wir ja bei der Arbeit. Ich kann wenigstens zwischendurch mal kurz herüberspringen und nach ihm schauen.
Für das Essen sorge vor allem ich. Huppe bekommt an seinem Arbeitsplatz viel weniger zugesteckt als ich, und so bin ich es, die die meisten zusätzlichen Nahrungsmittel beisteuert. Die brauchen wir dringend neben der wässrigen Kartoffelsuppe, die die alte Staffa tagaus, tagein ohne jede Abwechslung kochen muss, weil es nichts anderes gibt. Die Milch kriegt Wolfi, und zwar er ganz allein, darauf bestehe ich. Für Huppe und mich muss das Brot reichen oder ab und zu auch mal ein bisschen Gemüse. Aber das wird seltener jetzt, wo es auf den Winter zugeht.
Noch immer kämpfen wir unseren aussichtslosen Kampf gegen die Läuse: Ständig juckt es am Kopf. Stundenlang sitzen wir in unserer freien Zeit beieinander und suchen uns gegenseitig ab. Vor allem am Haaransatz müssen wir nachschauen, dort sitzen die Biester am liebsten. Wir jagen sie richtig mit Wut und Rachlust und jedes Knacken erfüllt uns mit tiefer Genugtuung.
Als ich Huppe absuche, klagt er: »Hier tut es weh! – Schau doch mal nach!«
Ich sehe mir die Stelle an. Hinten am Hals, wo er selbst nicht nachschauen kann, wölbt sich eine dicke, gerötete Beule. Keine Ahnung, was das ist!
Innerhalb weniger Tage wird das Ding größer und röter und schmerzt Huppe auch immer mehr. Schon der Kragen ist ihm zu viel, und ständig versucht er, ihn ganz nach hinten zu schieben. Nicht mal den Kopf kann er drehen, ohne dass es ihm wehtut.
Als die Beule aufplatzt, kommen große Mengen Eiter heraus. Aber immerhin fühlt Huppe sich jetzt erleichtert.
»Furunkel«, sagen die Frauen, »die kommen vom Hunger.«
Und sie kommen wieder, bald hat Huppe sie am ganzen Kopf. Überall zeigen sich Eiterbeulen, die sich öffnen und, wenn der Eiter abgelaufen ist, das rohe Fleisch sehen lassen.
Und jetzt geht es bei Wolfi auch noch los!
»Mit Petroleum betupfen, das würde helfen«, meint die alte Staffa.
»Und woher soll ich das kriegen?«, frage ich gereizt. Ratschläge aus Wolkenkuckucksheim habe ich selber genug!
Sie brummelt etwas vor sich hin, aber am Abend kommt sie tatsächlich mit einer Flasche Petroleum und drückt sie mir in die Hand. Ich bedanke mich bei ihr und es ist zugleich so etwas wie eine Entschuldigung für meine Ruppigkeit.
Ich nehme ein Läppchen – sauber, wie die alte Staffa mir dringend geraten hat! -, tränke es mit dem Petroleum und tupfe damit Huppes Geschwüre ab. Als ich an die offenen Eitergänge komme, schreit er laut auf.
»Hör auf zu schreien!«, sage ich. »Es geht nicht anders!«
Huppes Lippen werden ganz schmal, und die Backenmuskeln treten hervor, aber er schafft es nicht, die Schmerzen ganz zu verbeißen, und bald schreit er wieder auf.
Meine Hand mit dem Läppchen sinkt herab.
»Huppe«, bitte ich, »ich muss dir wehtun! Sonst wird’s nicht besser!«
Bei Wolfi ist es dann noch
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