Kalte Zeiten - Toporski, W: Kalte Zeiten
Bruder krank ist. Tagsüber ist Wolfi allein, denn wir gehen alle zur Arbeit. Aber Mama schafft es immer wieder, von der Gärtnerei kurz herüberzuschauen, und der Gärtner gehört nicht zu den Menschen, die ihr das verwehren wollten. Er drückt beide Augen zu und lässt sie gehen.
Ich kann es nicht fassen: Jetzt ist Wolfi doch weg! Irgendetwas muss durchgesickert sein, denn heute Mittag kam der gefürchtete Wagen, mit dem die Kranken wegtransportiert werden, und holte Wolfi ab. Mama sah es und stürzte von der Gärtnerei herüber, aber alle Proteste halfen nichts, Wolfi musste mit. Immerhin durfte sie ihn begleiten.
Was sie erzählt, klingt schrecklich. Die fiebernden, bis auf die Knochen abgemagerten Kranken liegen da in einer Baracke, dicht an dicht, und viele scheinen dem Tode nah. Mama hat schnell noch etwas Stroh zusammenkratzen können, auf das sie Wolfi gelegt hat, und dann wurde ihr bedeutet, dass sie gefälligst zu gehen habe. Sie hat ihm bloß noch einmal über das Haar streichen dürfen.
Wenn man nur etwas tun könnte! – Wir sind alle verzweifelt. Michał und Władka machen besorgte Mienen, als ich es ihnen erzähle.
Immer wieder geht Mama Wolfi besuchen, der Gärtner erlaubt es. Gefährlich ist es trotzdem, denn allen Deutschen ist verboten, sich auf der Straße sehen zu lassen. Wenn sie von der Miliz geschnappt würde, hätte sie zum Mindesten brutale Prügel zu erwarten, wenn nicht Schlimmeres. Und an ihrer zerlumpten Kleidung und barfuß, wie sie ist, ist Mama sofort als Deutsche zu erkennen!
Und außerdem ist es weit: elf Kilometer! Aber trotzdem läuft sie immer wieder nach Kutno, benutzt schmale Pfade, macht Umwege und rennt, solange sie kann, damit sie nicht so lange wegbleibt. Das Schlimmste ist, dass sie zum Schluss noch quer durch die Stadt laufen muss, weil die Krankenbaracke ganz am anderen Ende liegt: tausend Möglichkeiten, geschnappt zu werden!
Aber die wenigsten Polen scheinen ein Interesse daran zu haben, Jagd auf Deutsche zu machen. Nur die Miliz. Und deswegen späht Mama immer sehr sorgfältig, ob irgendwo vor ihr eine Mütze zu sehen ist, denn die Armbinden sieht man immer zu spät.
Wir sparen jetzt alles an Nahrungsmitteln, was wir entbehren können, für Wolfi. Mama nimmt die Sachen mit nach Kutno und versucht sie ihm einzuflößen. Ab und zu scheint es ihr sogar zu gelingen. Trotzdem habe ich abends, wenn Mama wiederkommt, jedes Mal Angst, ob Wolfi noch lebt. Drei Wochen geht das nun schon so.
Vor dem Schlafengehen bete ich für ihn.
Meine Gebete scheinen geholfen zu haben: Wolfi geht es besser! Als ich es heute Władka erzählt habe, hatte sie Tränen in den Augen, so sehr hat sie sich mit mir gefreut! Wenn ich die zwei nicht hätte!
Am nächsten Abend traue ich meinen Augen nicht: Er ist leibhaftig wieder da! Mama hat ihn einfach geholt – weil es in der Krankenbaracke immer noch so schrecklich zugeht und Wolfi hier bei uns mit Sicherheit schneller gesund wird als in jener vom Tod durchdrungenen Umgebung. Sie hat ihn sich einfach von anderen Kranken aus dem Fenster reichen lassen, ihn auf den Rücken genommen und ihn erst durch die Stadt und dann die langen, langen Feldwege entlang hierher getragen. Sie ist ganz fertig davon.
Aber was ist das für ein Wolfi, der jetzt hier bei uns liegt! Abgemagert bis aufs Skelett, kann er kaum stehen und an Gehen ist überhaupt nicht zu denken. Noch immer bin ich nicht sicher, ob er durchhalten wird.
»Eine Hühnersuppe, das wär’s, das würde ihm jetzt gut tun!«, meint die alte Staffa und lacht kurz auf. Eine Hühnersuppe! – Genauso gut hätte sie von einer Erholungskur in der Schweiz reden können!
Aber auf einmal sagt Mama: »Das wäre eine Idee...« Dann beugt sie sich zu mir herüber. »Versuch, ob du ein Huhn kriegen kannst.«
Ich kann nicht glauben, dass das ihr Ernst ist. Mit aufgerissenen Augen starre ich sie. »Was soll ich …?«
»Versuchen, ob du ein Huhn bekommst! Mir geben sie bestimmt keins – aber bei euch Kindern haben sie vielleicht Mitleid!«
Alles in mir wehrt sich gegen diesen Auftrag.
»Wie soll ich das denn machen?«, frage ich.
»Geh halt herum im Dorf und frag an den Türen!« Mamas Tonfall ist gereizt.
»Betteln?!«
Alles kann ich, und ich habe hier auch schon vieles gemacht, aber betteln? – Merkt Mama nicht, dass sie dabei ist, mich das letzte Stückchen Stolz opfern zu lassen, das mir geblieben ist? Dass sie von mir verlangt, mich selbst zu demütigen und zu erniedrigen? Noch
Weitere Kostenlose Bücher