Kalte Zeiten - Toporski, W: Kalte Zeiten
der Letzte auf: »Es geht wirklich nichts mehr hinein!«
»Aber ein Schnaps!«
Piotr holt die Flasche, sie macht die Runde und alle trinken sich zu. Piotr will auch mir ein Glas aufschwatzen, aber Bożena protestiert:
»Spinnst du? – Willst du sie vergiften?«
»Hab ich doch nicht ernst gemeint!«, sagt er einlenkend, »was, Lenachen?« Plötzlich schwebe ich, gehoben von seinen starken Armen, bis an die Decke.
»Seht mal alle her, wie groß sie ist!«, ruft er und setzt mich lachend wieder auf meinen Platz.
»Na zdrowie!« 21
Es ist ein ganz anderes Trinken, als ich es von dem letzten Hof her kenne. Dort war es immer gleich in Wut und Grobheit umgeschlagen. Hier aber löst es sich in Fröhlichkeit und Lachen.
»Hol noch eine Flasche!«
Bożena steigt auf die Leiter, um sie vom oberen Bord zu fischen. Andrzej hält die Holme fest und legt den Kopf schief, um mit seinen Blicken etwas mehr als nur ihre Knöchel zu erhaschen.
»Du wirst dir noch die Augen entzünden!«, ruft Bożena und rafft eilig ihre Röcke zusammen.
Alles lacht, aber Andrzej starrt weiter.
»Brauchst du vielleicht eine Brille?«, fragt Hanka scheinheilig.
»Nein. – Wieso denn?«
»Ein Glück, deine Stielaugen würden auch hinter keine Gläser passen!«
Und wieder lachen alle.
Es wird laut und lauter. Alles redet durcheinander. Die Männer haben Schräglage, wenn sie zur Tür hinaus wollen, um den Misthaufen zu wässern. Von dem, was sie reden, verstehe ich kaum noch etwas, und das liegt nicht mehr daran, dass ich zu wenig Polnisch kann.
»B-B-Bożena, B-Bożena!», seufzt Andrzej, auf seinem Stuhl mehr hängend als sitzend, und er versucht, ihr Schürzenband aufzuziehen. Sie aber entzieht sich ihm mit geschicktem Schwung und sein Arm fischt ins Leere. Ich pruste hinter der vorgehaltenen Hand!
Schließlich spricht Hanka ein Machtwort: »Jetzt reicht’s! Schluss für heute. Gute Nacht.«
»Schade, schade…«, murmelte Andrzej und schiebt sich, nach einem missglückten Versuch, Bożena wenigstens noch einen Abschiedskuss zu geben, zusammen mit den anderen aus der Tür in die Dunkelheit.
Als alle weg sind, ist es auf einmal ganz ruhig. Hanka und Bożena atmen tief durch.
»Aber … hupp … schön war’s!«, stellt Piotr fest.
Und im ganzen Haus gibt es niemand, der ihm widersprechen wollte.
DIE ENTSCHEIDUNG
»Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir …«
Sonntagmorgen. Ich knie neben Bożena vor der kleinen Marienstatue in der Mauernische.
»… und in der Stunde unseres Todes. Amen.«
Bożena steht auf, knickst vor dem Standbild und schlägt das Kreuzeszeichen. Ich tue es ihr nach.
Ich liebe dieses Beten mit Bożena. Es ist anders als mein allabendliches Gebet, feierlicher, aber gerade das finde ich schön. Ich sage dem lieben Gott meine Wünsche und Hoffnungen und ich sage ihm meinen Dank. Und es gibt ja so viel zu danken! Hätte er mich an einen besseren Ort führen können als gerade hierher? Hat er nicht in Bożena eine Art irdischen Engel geschaffen, ganz persönlich ausgesucht für mich? Ihr darf ich das natürlich nicht sagen, denn dann würde sie mich auslachen, aber denken kann ich es – und dafür danken auch. Und auch Piotr und Hanka, Paweł und Danuta: Gibt es bessere Menschen, denen er mich hätte anvertrauen können? Gut, Mama natürlich. Oder Papa und meine Geschwister. Aber die Familie ist auseinander gerissen und kann keinen Schutz mehr bieten wie früher. So ist es eben geschehen, und vielleicht gehört es zu Gottes großem Plan für die ganze Welt, ist ein Schicksal für viele Menschen und hat gar nicht so viel mit mir selber zu tun.
Und es gibt auch ein Glück im Unglück: Hat er mich nicht immer irgendwie beschützt, auch in den finstersten Zeiten? Hat er uns nicht gerade in dem Augenblick in den Wald einbiegen lassen, als die russischen Panzer sich die Straße freischossen? Hat er uns nicht auch im Keller immer beschützt, wenn wir überfallen wurden? Und selbst auf dem Hof von dem Säufer: Er hat mir doch eine ganze Menge Kraft gegeben, diese Zeit zu überstehen. Und Martha als Freundin war auch nicht so schlecht.
Deshalb bete ich gern mit Bożena, auch wenn ich manches nicht ganz verstehe. Vor allem die Gebete: Viel vorstellen kann ich mir dabei nicht! Trotzdem habe ich das Gefühl, wirklich mit Gott zu reden, ganz nahe bei ihm zu sein. Das Beten ist anders, als ich es von zu Hause gewohnt bin, anders auch, als ich es vom Großvater, dem evangelischen Pastor, kenne.
Weitere Kostenlose Bücher