Kalteis
Etwas älter war er, bekleidet mit diesen Knickerbocker-Sporthosen. Freundlich und aufmerksam, ob ihr etwas fehle, ob sie denn einen Unfall gehabt hätte und seine Hilfe brauche und der ganze Schmus. Zuerst wäre sie froh gewesen, wenn er sie einfach in Ruhe gelassen hätte, einfach nur in Ruhe. Aber dann ist ihr der Kerl in Steingarden wieder in den Sinn gekommen und da war sie ganz froh darüber, dass er da war und sie ein Stück begleiten wollte.
Am Anfang zumindest, wie er aber dann darauf bestand, die Abkürzung zu nehmen, denn sie sei ja immer noch viel zu erschöpft vom Radeln, und er ihr von seiner Frau erzählt hat, die heute den ganzen Tag und auch die Nacht in München sei, »bei ihrer Cousine« und »wegen dem Mussolini«, da ist er ihr schon ein bisschen aufdringlich vorgekommen. Immer näher ist er an sie herangerückt, wie zufällig hat er dann seinen Arm um ihre Schulter gelegt, sogar seine Stimme hatte auf einmal einen vertrauten Tonfall. Ein wenig unheimlich und seltsam ist er ihr vorgekommen. Wie sie die Staatsstraße erreichten und sie endlich wieder auf ihr Rad aufsteigen konnte, war sie recht froh darüber.
Eine Brotzeit hat sie sich in Peißenberg von ihm noch kaufen lassen. Warum auch nicht? Hatte sie sich so doch die zwei Mark sparen können. Aber sein wiederholtes Angebot, bei ihm in der Wohnung zu übernachten, hat sie ein ums andere Mal abgelehnt. Da konnte er noch so fürsorglich auf sie einreden, mit »mein Kind, Sie sind ja noch ganz erschöpft« und »ich kann Sie in diesem Zustand einfach nicht weiterfahren lassen, mein Kind«. Dieses ständige Mein-Kind-Getue, es war ihr auf die Nerven gegangen. Sollte er doch gleich sagen, was er von ihr wollte, war sie doch kein kleines Kind mehr. Nein, das war sie bestimmt nicht mehr, hatte sie doch selbst ein Kind von dem Heinrich. Drei Jahre war er jetzt alt, der Bub. Der Heinrich, der war auch so ein Reinfall gewesen. Der hat keinen einzigen Pfennig Unterhalt gezahlt, nicht einmal dran gedacht hat der. Aber wenn sie ehrlich ist, zahlen hätte er auch gar nicht können. Ein Rumtreiber, ein Hallodri war er gewesen. Seinen Mund hat er immer ganz weit aufgerissen und dann nichts dahinter. Das Letzte, was sie von ihm gehört hatte, war, dass sie ihn eingesperrt hatten. Verhaftet haben sie ihn, wegen irgendetwas. Was genau, das weiß sie nicht, will es auch gar nicht wissen. Will nicht hineingezogen werden in irgendeine Sache. Es reicht ihr schon, dass sie weiß, dass er jetzt in Dachau ist. Den Buben, den Kleinen, den hat sie bei einer Pflegefamilie untergebracht. Was hätte sie auch mit so einem Kind machen sollen, hatte sie doch nicht einmal Geld, sich selbst durchzubringen. In München wollte sie es noch einmal mit einer Stelle versuchen. Vor fünf Jahren hatte sie es schon einmal versucht, war ein paar Wochen geblieben. Aber die Zeiten waren damals viel schlechter gewesen als heute. Gehört hat sie, dass es jetzt einfacher sei, und mit dem Zeugnis, das ihr der Dr. Kaiser ausgestellt hat, würde sie bestimmt wieder eine Stelle als Dienstmädchen finden. Ganz sicher war sie sich da. Sie hatte ein gutes Gefühl, dass sich alles in ihrem Leben jetzt zum Guten verändern würde. Irgendwann musste es sich doch zum Guten wenden. Überlegt hat sie sich jetzt, dass so ein Platz zum Schlafen doch ganz gut wäre. Müde war sie, die Beine waren ihr schon sehr schwer. Fast wäre sie bei dem letzten Gasthaus eingekehrt. Hätte um ein Nachtlager gefragt und ihr letztes Geld für einen Schlafplatz hergegeben. Dann hatte sie es sich aber in letzter Minute doch noch anders überlegt und ist weitergefahren. Sie würde es heute schon noch schaffen, da war sie sich ganz sicher. Von Oderding wäre es nicht mehr weit und sie hätte ihr Ziel erreicht. Nicht mehr weit wäre es.
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Ich bin die Regina Adlho ch. Wohnhaft in Unterellegg, Ge meinde Wertach.
Bäuerin im Austrag bin ich. Ich lebe auf dem Hof mit meinem Sohn und der Schwiegertochter.
Hierhergekommen bin ich, weil ich meine Tochter Kuni, Kunigunde Adlhoch, vermisse.
Geboren ist die Kuni am 21. August 1915 in Unterellegg.
Zuletzt gesehen habe ich sie am 28. September 1938.
Bis Anfang September war die Kuni noch beim Dr. Kaiser in Freiburg in Stellung. Warum sie die aufgegeben hat, kann ich nicht sagen. Ich weiß es nicht. Sie hat mir darüber auch nichts gesagt. Auf den Hof raus ist sie gekommen und geblieben ist sie drei Wochen. Bei mir im Austragshäusl hat sie geschlafen. Ich glaub, es ist ihr
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