Kalter Amok
Gehsteige getränkt, welche noch lange nach Sonnenuntergang die Hitze in die Atmosphäre reflektieren würden. Die Stadt würde heiß bleiben bis Mitternacht, und der Stoßverkehr würde bis halb acht andauern.
Rafael fuhr in Richtung auf das Zentrum über die Richmond Street und bog dann nach Norden in die Kirby ein. Die Ledersitze des Mercedes waren heiß; er begann am Rücken zu schwitzen. Er wußte, daß der Schweiß dunkle Flecken auf seinem hellblauen Sportsakko aus Leinen hinterlassen würde. Er öffnete das Schiebedach, jetzt, wo die Sonne schon tief am Horizont stand, hielt vor einer Kneipe in River Oaks an und ging hinein.
Allein an einem Zweiertisch, trank er zwei Smirnoffs und dachte über das nach, was geschehen war. Dabei ging ihm immer noch die Musik aus dem Film durch den Kopf. Er war von seiner Vision völlig aus dem Gleichgewicht gebracht worden. So war es ihm noch nie passiert. Und es war auch nicht der Inhalt der Vision, der ihn verwirrte – der war natürlich und reizvoll, ein sinnliches Vergnügen, unbeschreiblich. Nein, die Vision war ein Geschenk seines Unterbewußtseins gewesen, und er hatte es dankbar entgegengenommen. Er war verwirrt, weil sie ungebeten gekommen, ja über ihn hereingebrochen war, als hätte sie ein Eigenleben gehabt. Sicher, in gewisser Weise hatte er diese Vision herbeigesehnt, aber andererseits hatte er noch nie Erfahrungen von derartiger Intensität gemacht.
Noch einen Wodka.
Was fürchtete er eigentlich? Daß es möglicherweise ein Anzeichen war für – ja, wofür? Wahnsinn? Er war oft ganz bewußt vor der Realität geflohen, aber er hatte sie nie ganz aufgegeben. Noch gab es zuviel zu tun. Er mußte unter allen Umständen seine Vernunft bewahren. Er mußte noch so viele Impfungen vornehmen…
Noch einen Smirnoff.
Als sich seine Gedanken auf die Mädchen richteten, lächelte er. Die Reaktionen der Männer, die diese Mädchen gekauft hatten, amüsierte ihn. Sie waren völlig verblüfft gewesen angesichts des Todes ihrer neuen Erwerbungen. Der erste, Antonio Vianna, bildete eine Ausnahme. Er war aus der Stadt Mexiko zurückgekommen und hatte das Mädchen schwerkrank vorgefunden, hatte den guten Doktor Gonzaga angerufen, der sie natürlich nicht retten konnte. Vianna hatte ihren Leichnam über die Grenze geflogen und ihn in einem kostbaren Sarg in einem kleinen Dorf nahe Cuernavaca beerdigen lassen. Er betrauerte aufrichtig ihr Dahinscheiden. Vianna war Witwer und hatte sich in seine Neuerwerbung verliebt.
Ross Wilson, der Ölmagnat, der in Louisiana lebte und einen Wohnsitz in Houston unterhielt, war weniger romantisch gewesen. Als er merkte, daß seine Carioca tot war, reagierte er auf typisch amerikanische Weise. Einer seiner Freunde, der ein Begräbnisinstitut besaß, schmuggelte sie des Nachts dort hinein und verbrannte ihren Leichnam. Das, was übriggeblieben war, wurde am nächsten Morgen von den Müllmännern abgeholt. Wilson hatte sich bei Rafaels Onkel über den schlechten Handel beschwert. Wenn er alles zusammenrechnete, hatte er eine Investition von fünfzigtausend Dollar verloren. Dennoch ließ er seinen Namen auf die Liste für eine Nachfolgerin setzen.
Luis Guerreiro hatte seine Geliebte in einen Abwassergraben im Herzen des barrios werfen lassen. Er wußte, daß sie als unbekannte Tote in einer Akte aufgeführt und ihre Identität niemals ans Licht kommen würde. Ein anderer ließ seine Geliebte von Freunden in einem Salzfeld zwischen den Petroleumraffinerien von Pasadena verscharren. Ein weiteres Mädchen war krank geworden und gestorben bei einer Ferienkreuzfahrt auf der Privatjacht ihres Besitzers um die Key-Inseln von Florida. Da der Mann sie nicht mit zurücknehmen wollte, hatte er einige Mühe, den anderen Gästen zu erklären, warum sie auf offener See bestattet werden mußte. Die Rückfahrt war unangenehm gewesen, und es konnte durchaus sein, daß sich die Polizei noch nachträglich mit ihm auseinandersetzte.
Rafael langte in seine Jackentasche und zog einen Kalender heraus. Für den heutigen Tag hatte er notiert: »Lunde in New Orleans.« Charles Lunde war Reeder; er besaß ein Haus am Rand von River Oaks, sechs Blocks von der Kneipe entfernt, in der Rafael saß. Lunde war einer der ersten Nutznießer von Paulo Guimaraes’ Importgeschäft gewesen. Sein Mädchen hatte freilich immer noch Schwierigkeiten mit der englischen Sprache, obwohl Lunde dies in keinster Weise zu stören schien. Sie schienen sich recht gut zu verstehen, auch wenn
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