Kalter Amok
Zuhälter, der mit einem rebellischen Mädchen sein Geschäft machen will, oder in Fällen von Callgirls ein verängstigter Freier, der glaubt, daß sie ihn reingelegt hat und erpressen will. Dabei benützen die Täter als Waffe ein Messer, einen Revolver, oder sie erschlagen die Frau. Nichts, was auf besonderen Einfallsreichtum hinweisen würde. Es ist die Banalität des Todes, von der wir gestern gesprochen haben. Hier haben wir es mit recht unauffälligen Todesursachen zu tun. Da scheint jemand kreativ zu sein, sehr kreativ, in der Tat. Es kann vielleicht lange dauern, bis wir dahinterkommen, was da passiert ist.«
Vanstraten wollte noch etwas sagen, aber er wurde abgelenkt von Geklapper und von den Bewegungen der Männer, die ihre Ausrüstung oben in der Galerie einpackten. Die Assistenten von der Leichenhalle, beide in Weiß, kamen aus dem roten Schlafzimmer mit dem Leichnam von Theresa Parmer, den sie mit einem Papiertuch bedeckt und auf eine Leichtmetallbahre geschnallt hatten. Ihnen folgten die Spezialisten vom Erkennungsdienst der Polizei, die in Beuteln und Aktentaschen ihre Beweise forttransportierten. Dieser makabre Gänsemarsch bewegte sich am blauen und am gelben Schlafzimmer vorbei und dann die Treppe hinunter durch die karnevalistisch bunten Farbreflexe der Blasen in den Plastikröhren der Musikbox.
12
Der junge Mann saß allein an der Theke und schaute die Frau über die gläsernen Zuckerspender und die Serviettenhalter aus Chrom hinweg an. In Reno Sweeney’s »Tenth Street Diner« waren nur diese zwei Personen außer Reno selbst, der emsig seinen knochigen Körper von der Küche in den Speiseraum und wieder zurück bewegte. Es war genau vier Uhr morgens. In ein paar Stunden würde der Himmel auf der gegenüberliegenden Straßenseite hell werden, über den großen vorhanglosen Fenstern von »Divas Tanzakademie«, und die Frühstücksstammgäste würden nach und nach eintreffen und erwarten, daß der alte Reno zehn Dinge gleichzeitig schaffte. Also bereitete er sich jetzt schon auf den Ansturm vor.
Genau genommen hatte die Frau damit angefangen, den jungen Mann zu beobachten. Sie war von der dunklen Straße hereingekommen, erschöpft nach einer Marathon-Nacht, und das erste, was sie im hellen Licht des Lokals gesehen hatte, waren die Schultern des Mannes gewesen, als er auf einem Hocker an der Theke saß. Sie hatte die müden Augen gerade auf ihn gerichtet, als er die Hand ausstreckte, blitzschnell über die Plastiktheke gleiten ließ und eine Fliege fing. Sie sah es, aber das einzige, was sie dabei empfand, war die Erleichterung darüber, daß er ihr den Rücken zugekehrt hatte. Nein, um diese Zeit brauchte sie niemanden mehr anzumachen. Sie wandte den Kopf ab und ging zu einer der Nischen neben dem Fenster, durch das man auf die graue Straße hinausschauen konnte.
Reno sah sie von der Küche aus durch die runden Fenster in der Klapptür und kam heraus mit einer Speisekarte und einer Tasse Kaffee.
»Verdammt lange Nacht«, sagte er. Es war eine Feststellung, keine Frage, und sie antwortete: »Da können Sie recht haben«, und bestellte Bratkartoffel und zwei Rühreier mit Toast, ohne auf die Speisekarte zu schauen. Reno ging im Krebsgang zurück in die Küche, und die Frau streifte sich unter dem Tisch die Schuhe von den Füßen und zündete sich eine Zigarette an. Dann wanderte ihr Blick zu dem Mann an der Theke. Es gab ja sonst nichts zu tun.
Sie sah ihn jetzt im Profil. Er war jung, höchstens sechsundzwanzig, und sah gut aus, eher wie ein Italiener als ein Mexikaner, obwohl seine Hautfarbe dunkel war. Sein Haar war modisch kurzgeschnitten, wie bei den männlichen Mannequins in Vogue und Mademoiselle frisiert und rings um die Ohren ausrasiert. Er trug gute Kleidung, eine Hose mit einem beigen Hemd, dessen oberster Knopf offen war, dazu ein helles, europäisches Sportsakko. Von ihrem Platz aus konnte sie nur einen Fuß sehen, einen sportlichen Schuh, der aussah wie ein geflochtener Sommerslipper.
Sein ausgeprägtes Kinn war glattrasiert, hatte ein Grübchen, und die vollen Lippen darüber wirkten verdammt sexy. Aber es war sein Ausdruck, der sie dazu verführte, ihn zu beobachten und das, was er tat. Es war ein sonderbarer Ausdruck; sie würde ihn erst viel später verstehen. Seine Oberlippe war an einem Mundwinkel leicht angehoben, was der Beginn eines spöttischen Grinsens sein konnte, während sich die Nasenlöcher leicht blähten, als hätten sie etwas Unangenehmes und Empörendes
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