Kalter Amok
entdeckt. Seine Augen wirkten ruhig, sie schienen Selbstsicherheit auszudrücken oder Gedanken, die seine Teilnahme so sehr erforderten, daß er darin aufzugehen schien.
Auf der verkratzten, ehemals roten Plastiktheke hatte der junge Mann eine Pfütze aus Wasser und Zucker entstehen lassen. Als die Fliegen kamen – und es gab keinen Mangel an Fliegen bei Reno – fing er sie und zerdrückte sie bedächtig in seiner Handfläche. Sie wußte es nicht, hatte aber den Tod der fünften Fliege miterlebt, als sie hereingekommen war. Jetzt schubste er die kleinen Leichen mit einem Zahnstocher herum, arrangierte sie erst so und dann wieder anders. Manchmal im Kreis und manchmal in einer Reihe und experimentierte damit herum, als wollte er eine ganz besondere Wirkung erzielen, die im Einklang stand zu seinem seltsamen Gesichtsausdruck.
Erst als Reno das Essen brachte, blickte der junge Mann auf und sah die Frau an. Er richtete den Blick auf sie und beobachtete sie die ganze Zeit, während sie aß. Sein Blick war ungeniert und intensiv wie der eines geistig Behinderten, der etwas Interessantes sieht und es gierig und offen beobachtet.
Ihr war es egal. Es gab eine Menge viel schlechter aussehender Kerle, die sie mit den Augen ausgezogen hatten. Als sie fertig war und sich zum Kaffee eine Zigarette anzündete, rutschte er vom Hocker und kam zu ihr herüber. Sie ignorierte ihn, bis er direkt vor ihrem Tisch stand, dann blickte sie zu ihm hoch. Verdammt, in manchen Nächten hätte man keinen Freier auftreiben können, und wenn man nackt durch die Straßen gegangen wäre, und ein andermal standen sie geradezu Schlange.
»Entschuldigen Sie«, sagte er höflich, »ich wollte Sie fragen, ob ich mich ein paar Minuten zu Ihnen setzen darf.«
»Meinetwegen«, antwortete sie und deutete mit der Zigarette auf den Stuhl, der ihr gegenüberstand. Na wenn schon, dachte sie, wenigstens sieht er gut aus.
Er trat in die Nische, und sein Ausdruck war noch immer unverändert. Jetzt, als sie ihn genauer sah, bemerkte sie, daß er einen zu langen Hals und abfallende Schultern hatte. Seine Hände wirkten alles andere als kräftig, als er die Finger auf dem Tisch verschränkte. Sie war etwas enttäuscht, weil sie fand, daß er homosexuell wirkte.
»Wir sehen uns nicht zum erstenmal«, begann er. »Wohnen Sie hier in der Gegend?«
»Vielleicht.« Sie merkte, daß sie einen unerwartet zurückhaltenden Ton angeschlagen hatte.
Er versuchte zu lächeln, aber statt dessen wurde es ein Grinsen. »Ich habe ja nur gefragt«, sagte er. »Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.«
Seine Stimme war nicht die eines Schwulen. Er hatte einen leichten Akzent, aber sie konnte ihn nicht identifizieren.
Und sie entgegnete nichts.
Sein Grinsen verschwand, und sein Blick richtete sich auf ihre Brüste, verweilten dort. Sie fühlte sein Starren, als wäre es spürbar, als würde er ihre Brüste berühren, liebkosen, kneten. Dabei vermutete sie ein geheimes Gefühl hinter seinen Augen, etwas, das seltsam verwandt mit Erschütterung zu sein schien.
»Hören Sie«, sagte er, »ich will aufrichtig sein mit Ihnen. Ich weiß, wo Sie wohnen.« Er sprach präzise, so, als fürchtete er, etwas Falsches zu sagen. Das hatte sie nicht erwartet. Er war ihr so selbstsicher vorgekommen. Vielleicht hatte sie sich getäuscht.
»Ich… Ich bin Ihnen sogar einmal nachgegangen.« Er hob eine Hand, als wollte er sie davon abhalten, zu denken, was eine Frau in einem solchen Fall denkt. »Aber… Ich wollte nur wissen, wo Sie wohnen. Sonst nichts.«
»Wozu haben Sie das getan?« Sie schaute ihn mit gefurchter Stirn an und strich sich mit unruhiger Hand über ihr Haar, fühlte plötzlich, wie drahtig es geworden war vom Haarspray. Zuviel Wasserstoffsuperoxid, in zu vielen Jahren, aber sie mußte es tun – blond kam sie immer noch am besten an.
»Ich habe Sie in Montrose gesehen«, wiederholte er. »Ich habe immer mit Ihnen gehen wollen, aber es sollte nicht so – so gewöhnlich sein. Nicht so, wie Sie es mit den anderen machen.«
Er sprach mit den Händen, versuchte ernsthaft, ihr Verständnis zu gewinnen. »Nicht in einem billigen Motelzimmer, sondern so, als wenn sie eine ganz normale Frau wären, eine Durchschnittsfrau, wenn Sie verstehen, was ich meine. Eine Freundin. Also bin ich Ihnen nachgegangen. Und ich sah Sie einfach als eine Frau, die in dieser Straße, in diesem Apartment wohnte. Ich wußte, daß Sie oft hierherkommen. Ich bin gestern und vorgestern um diese Zeit
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