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Kalter Fels

Kalter Fels

Titel: Kalter Fels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Koenig
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Er war durchs eiskalte Wasser der Isar gewatet, sodass nicht einmal mehr ein Polizeiköter seine Spur hätte finden können. Er hatte sich von allen Wegen, Pfaden, Hütten entfernt und war verschwunden in einem Nichts-und-niemand-Land. Das Gebirge bestand zu neunzig Prozent aus solchem Nichts-und-niemand-Land – wie sollten sie ihn finden?
    Und doch war er vorsichtig geblieben. Von früh bis abends war er dort gehockt, die Straße und das Gelände zwischen ihm und dem Asphalt im Auge behaltend. Manche Stunde dabei verdösend, manche Stunde stumme Spiele spielend. Er konnte nicht gut zählen, aber es machte ihm Spaß, für jedes rote Auto, das von Österreich kommend in Richtung Mittenwald fuhr, ein kleines Kiefernzäpfchen in eine Reihe zu legen. Am nächsten Tag machte er das mit blauen Autos, aber da kamen nicht so viele Kiefernzäpfchen zusammen. Bei den silbernen Fahrzeugen jedoch, da gingen ihm die Zäpfchen aus. Ferdinand wunderte sich darüber, dass es so viele silberne Autos gab – so viele mehr als rote, blaue, schwarze. An anderen Tagen verglich er schätzend die Menge der von links, also Österreich, kommenden Fahrzeuge mit den von rechts kommenden. So schlug er die Zeit tot.
    Doch vor allem verlor er nie den Parkplatz aus den Augen. Er beobachtete genau, was dort vor sich ging.
    Denn dieser Parkplatz wurde alles für ihn: Basislager, Lebensmitteldepot, Lebensader. Tagelang beobachtete er, was sich dort unten alles ereignete. Beobachtete, wie Lastwagenfahrer ihre Führerhäuser verließen und wippend ins Gebüsch pissten. Er sah Mountainbiker, die ihre Räder vom Dach montierten, ihre kleinen Rucksäcke schulterten und sich auf den Weg machten. An heißen Tagen war der Parkplatz voller als sonst. Da kamen Familien samt Badespielzeug und manchmal sogar samt Grill und campierten auf den Uferstreifen oder den Sandbänken der glitzernd dahinspringenden Isar.
    Das alles war jedoch nebensächlich. Wichtig war für Ferdinand nur, an Lebensmittel und sonstige Dinge zu kommen, die er dringend benötigte.
    Er hatte zunächst daran gedacht, abgestellte Fahrzeuge aufzubrechen. Das wäre ja leicht gewesen. Einen Stein vom Ufer … die Scheibe eingeschlagen … dann alles Brauchbare raus …
    Doch wenn ein Fahrer das dann angezeigt hätte, bei der Polizei in Mittenwald oder in Scharnitz, und wenn er erzählt hätte, dass eine dicke Jacke gestohlen worden war oder zwei Flaschen Orangensaft, dann wäre vielleicht aufgefallen, dass hier kein berufsmäßiger Autoknacker am Werk war, sondern Ferdinand Senkhofer, der sich das für ihn Überlebensnotwendige nahm. Nein, so ging das nicht, das wusste Ferdinand sehr wohl. Deshalb wartete er geduldig, bis genau die richtige Situation eintrat.
    Sie kam in Gestalt eines Wohnmobils mit holländischem Kennzeichen.
    Er sah den Fahrer aussteigen, einen Mann von vielleicht fünfzig Jahren. Und eine Frau, deutlich jünger. Sie stiegen aus und zündeten sich Zigaretten an und lehnten am Auto, an dessen Heck zwei Fahrräder montiert waren. Rauchend sahen sie auf den Fluss, von dem sie wahrscheinlich nicht einmal den Namen wussten, und zu den Bergflanken, die sich drüben in Richtung Arnspitze erhoben. Unspektakulär, waldig, ohne die raue Schönheit und Erhabenheit der Felsregionen. Doch für jemanden, der keine Berge kannte, war das vielleicht schon spektakulär genug.
    Als die Frau zu Ende geraucht hatte, ging sie hinunter ans Wasser. Sie zog ihre Sandalen aus und stülpte ihre Hosenbeine hoch. Sie tapste im seichten Wasser umher und forderte ihren Begleiter auf, es ihr gleichzutun. Sie alberten herum wie Kinder und entfernten sich mehr und mehr vom Parkplatz. Nicht wirklich weit, aber weit genug, dass Ferdinand den Hang hinunterrennen konnte. Das Wohnmobil stand offen. Vom Fluss aus konnten die beiden nicht sehen, dass er hinten einstieg und sich in wenigen Augenblicken all das griff, was ihm wichtig erschien: eine gute Decke, zwei kleine Kissen, eine Flasche Schnaps, eine kiloschwere Salami, zwei Messer und einen Ranken Brot. Die Tür des Wohnmobils lehnte er an.
    Als die beiden zurückkamen, küssten sie sich, ehe sie ihre Fahrt fortsetzten. Ferdinand saß da längst wieder in seinem Ausguck und freute sich diebisch. Sie würden bestimmt weit gefahren sein, ehe sie den Diebstahl bemerkten. Vielleicht würden sie richtig vermuten, dass es am Parkplatz bei Scharnitz geschehen war. Aber dann noch zur Polizei gehen, wegen der paar Sachen, die fehlten? Nein, nein, nein, auf so blöde

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