Kalter Fels
gut. Aber heute wirkte sie noch abweisender als bei seinem ersten Besuch. Und sie erschien ihm blass, und die Schminke, die sie aufgelegt hatte, kam ihm falsch vor. Mit dem Instinkt des Kriminalers merkte er, dass etwas nicht stimmte. Sekunden später wusste er auch, was das Problem war.
»Ihren Wein braucht mein Mann nicht«, sagte sie kühl. Doch in ihren Augen lagen Angst und Traurigkeit und Einsamkeit.
Schwarzenbacher wollte etwas erwidern, aber sie kam ihm zuvor.
»Er hat sich schlecht gefühlt nach Ihrem Besuch. Tut mir leid, Ihnen das so unverblümt sagen zu müssen. Elend gefühlt hat er sich.«
Sie sah Schwarzenbacher mit einem kalten Blick an.
»Er hat meines Wissens für Sie recherchiert. Hat alte Sachen ausgegraben, die wohl besser hätten ruhen sollen. Und er muss dabei fündig geworden sein. Dabei hat er sich immer schlecht gefühlt. Und dann ist er zusammengebrochen. Ist nachts aufgestanden – wenn Sie es genau wissen wollen –, hat das Fenster geöffnet, als wenn er zu wenig Luft bekommen hätte, und ist dann in sich zusammengesunken. Ich werde das nie vergessen … Er liegt in Innsbruck, in der Uniklinik. Sie verstehen, dass er Ihren Wein nicht braucht. Und ich möchte ebenfalls nur zu gerne darauf verzichten.«
Schwarzenbacher spürte zwar, dass sie von ihm keine Antwort und keine Entschuldigung hören wollte. Doch er konnte nicht anders, als wenigstens nach dem genaueren Befinden des Staatsanwalts zu fragen.
»Es war ein Schlaganfall«, sagte sie. »Seither ist er halbseitig gelähmt. Er kann nicht sprechen. Und wenn er mich ansieht, dann weiß ich nicht, ob er auch nur die geringste Ahnung hat, wer ich bin.«
Sie sah Schwarzenbacher mit einem harten und verzweifelten, wütenden und zugleich unendlich traurigen Blick an. »Es ist nicht das, was Sie hören wollen. Ich weiß.«
Frau Kröninger kamen die Tränen, sie versuchte dagegen anzukämpfen, wandte sich ab und ging auf die offene Haustür zu.
»Durch Ihren Mann konnten Mörder überführt werden«, sagte Schwarzenbacher.
Sie drehte sich noch einmal um und sagte: »Wenn Sie nur nie zu uns gekommen wären …«
Dann trat sie ins Haus und schloss sehr langsam und sehr leise die Tür.
* * *
Es war eine Sache, auf einem Bergsteig zu gehen, achtsam, weil auch da das Gelände nicht eben war und man mit jedem Schritt stolpern und stürzen konnte. Und es war eine andere Sache, die gebahnten Wege zu verlassen, einfach hineinzugehen in die Natur und selbst jeden nächsten Schritt zu erkunden und zu entdecken.
Dort die viel sicherere Variante – immer dem Steig folgen, der musste schließlich irgendwo hinführen, sogar Hinweisschilder gab es: »Brunnsteinhütte ½ h«, und immer wieder rote Farbkleckse auf Felsbrocken oder an Baumständen, und solange man diese roten Markierungen sah, konnte man sich gewiss sein, die Zivilisation noch nicht gänzlich hinter sich gelassen zu haben.
Hier aber, abseits der von den Alpenvereinen angelegten, ausgewiesenen und in Schuss gehaltenen Wege, war jeder Schritt ein Schritt ins Ungewisse. Wohin sollte er führen? Würde sich die Natur dem menschlichen Willen beugen – ihm gleichsam einen Weg bescheren, wo es bislang keinen gab? Oder würde man nach einiger Zeit auf unüberwindliche Hindernisse stoßen, auf tiefe Schluchten oder steile und gefährliche Felspassagen? Ja, dichtes Unterholz allein konnte schon genügen, jedwedes Vorwärtskommen unmöglich zu machen.
Doch genau in dieser Ungewissheit lag die besondere Faszination. Und das nicht nur, wenn man als guter Kletterer eine neue Route eröffnete, wenn man in eine Felswand einstieg, um sich in der Senkrechten einen ganz eigenen Weg zu erschließen. Erstbegehung nannte man das. Dort, in den Felswänden, war das Abenteuer natürlich viel größer. Und Marielle träumte schon einige Zeit davon, selbst einmal so eine Erstbegehung durchzuführen. Sie hatte nur keine Idee, wo so etwas noch möglich und sinnvoll wäre. Aber auch im Gehgelände konnte sich diese Faszination einstellen. Weil da ein Gefühl aufkam, ein ganz besonderes Gefühl, und es redete einem ein, der allererste Mensch zu sein, der seinen Fuß an diese Stelle setzte.
Marielle mochte das.
Marielle fühlte bei so etwas eine ganz eigene Erregung. Aber es schwangen noch andere Gefühle mit, eine besondere Gespanntheit und Aufgeregtheit und dazu eine außergewöhnliche Wachheit der Sinne.
Sie stieg den Hang hinauf, wo es keinen Weg gab. Vielleicht waren schon einmal
Weitere Kostenlose Bücher