Kalter Fels
Marielle‹ …«
* * *
Der Parkplatz war ihm vertraut. Den Großteil des Tages verbrachte er dort, wo er ihn im Blick haben konnte: gerade einmal dreißig oder vierzig Höhenmeter über dem Wanderweg, dem Bahngleis, der Straße. Und keine zwei Minuten entfernt von diesem Parkplatz, wo er alles bekam, was er fürs Überleben brauchte.
Sein Versteck lag nicht so nahe an der Straße. Viel weiter oben, wo der Fels kompakter wurde, hatte Ferdinand eine Höhle gefunden, die geradezu ideal war, sich einige Tage, vielleicht sogar Wochen verborgen zu halten.
Nachdem er Marianne Grasbergers Wohnung verlassen hatte, war er noch einmal kurz nach Hause gegangen. Er hatte nichts sagen müssen – Hedwig hatte schon alles gewusst, hatte ihm das Totmachen von den Augen abgelesen.
Er hatte eine Decke zusammengerollt und in eine Einkaufstasche ein paar Vorräte gepackt: einen halben Laib Brot, ein Stück Speck, ein Stück Käse, ein paar Äpfel, eine angebrochene Tafel Schokolade, zwei Flaschen Bier. Außerdem zwei halb abgebrannte Stumpenkerzen und Streichhölzer.
»Wo willst du hin?«, hatte Hedwig gefragt.
»Mich verstecken«, war seine Antwort gewesen.
»Wo?«, hatte sie geschrien. »Verdammter Kerl, ich will wissen, wo!« Ihre Stimme war schrill gewesen. Aber darum hatte er sich nicht gekümmert.
»Irgendwo verstecken. Nicht auf der Alm. Da geh ich nicht hin. Das spür ich, dass sie mich da finden.«
Dann war er weggegangen, war den bewaldeten Bergrücken hinaufgestiegen. Seine Rippen hatten ihn dabei fürchterlich geschmerzt. Und auch sein Knie, wo ihn das Messer getroffen hatte. Doch er hatte die Zähne zusammengebissen und war immer weitergegangen, bis dorthin, wo der Baumbestand dünn wurde.
Hier hatte er eine mehr als ungemütliche Nacht im Freien verbracht. Nur in die Decke gehüllt war er auf dem harten, unebenen Untergrund gelegen. Um vier Uhr morgens hatte er vor Kälte zu schlottern begonnen.
Bald nach Einsetzen der Morgendämmerung hatte er sich mit dem Instinkt eines Wildtieres nach einem Unterschlupf umgesehen. Er fand ihn in Form einer Höhle, deren Einlass klein war, ein Spalt im Fels von nicht mehr als siebzig Zentimetern Höhe und fünfzig Zentimetern Breite.
Es war wiederum sein Instinkt gewesen, der Instinkt eines Mannes, der mehr als dreißig Winter in der Einsamkeit verbracht hatte und die Launen der Natur besser kannte als jeder andere, der ihn erahnen ließ, dass dieser Spalt im Fels der Eingang zu einer Höhle war – und damit zu einer möglichen Behausung. Er hatte sein weniges Zeug abgestellt und war hineingekrabbelt. Sein Knie reagierte heftig auf die Krabbelei. Und auch seine Rippen empfanden das Ganze als Tortur. Doch es musste sein.
Zunächst kroch er in einem engen Gang. Die Finsternis war fast vollkommen. Doch nach einer Minute hatten sich seine Augen auf die Dunkelheit eingestellt. Er konnte erkennen, dass der Gang sich weitete, zu einer wirklichen Höhle wurde. Er stand langsam auf, vorsichtig die Wände rechts und links und über sich befühlend. Ja, er konnte aufrecht stehen. Und allem Anschein nach war die Höhle groß genug, dass er ausgestreckt darin liegen konnte. Er kroch zurück und holte seine Sachen. Als er dann eine der Kerzen angezündet hatte, konnte er sehen, dass er ein optimales Versteck gefunden hatte. Hier würde ihn niemand finden.
Aber damit, dass niemand ihn fände, war es nicht getan. Das wusste er. Er benötigte Lebensmittel, und er brauchte einen Schlafsack oder zusätzliche Decken, um sich einigermaßen erträglich einrichten zu können. Er würde wieder hinuntermüssen ins Tal.
Von da an war Ferdinand an jedem Morgen in der Dämmerung hinuntergestiegen, was beinahe eine Stunde erforderte. Aber er hatte ja Zeit im Überfluss. Dort, von wo aus er jetzt die junge Frau beobachtete, hatte er sich einen Platz gesucht, an dem er sich verbergen und von dem aus er zugleich alles im Blick haben konnte.
Hier hatte er von Anfang an seine Tage verbracht, bis auf die, an denen es allzu heftig regnete. Von seiner leicht erhöhten Warte aus hätte er sehen können, wenn sich jemand nach ihm auf die Suche machte. Wenn jemand auf die Idee gekommen wäre, im weglosen Gelände hinaufzusteigen in Richtung seines Verstecks. Aber es kam niemand.
Die Polizei ist dumm, hatte er einmal gedacht, wie er so auf der Lauer saß. Sucht bestimmt überall, aber hier nicht. Und er war ein wenig stolz darauf, bei seinem Verschwinden aus Scharnitz alles richtig gemacht zu haben:
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