Kalter Fels
Ideen kämen die nicht …
So hatte sich Ferdinand in den letzten Wochen eingerichtet. Mit kleinen Diebstählen, viel raffinierter ausgeführt, als es von ihm zu erwarten gewesen wäre, und er hinterließ keine Spur dabei, keine Spur, die zu ihm führte.
Marielle, die jetzt da unten am Parkplatz stand und hinaufsah in die Richtung, wo er sich verbarg und wo, viel weiter oben, sein eigentliches Versteck lag, war auch keiner Spur gefolgt.
Sie hatte sich lediglich von einer Intuition leiten lassen. Und als sie nun schon zum wiederholten Mal an dieser Bergflanke hinaufschaute, tat sie das noch immer nicht mit der Gewissheit, dass ihr eigentliches Interesse dem flüchtigen Doppelmörder galt. Noch redete sie sich ein, dass auch ein rein bergsteigerisches Motiv mitschwang: Neuland entdecken, sich einen Weg suchen, wo es keinen gab, zunächst mit dem Auge noch, aber dann …
Als sie die Straße überquerte und, nach links und nach rechts spähend, über das Bahngleis stieg, da spürte sie etwas in ihrer Brust und in ihrem Magen – nur so ein Gefühl, aber dieses Gefühl war leicht bedrohlich wie ein noch fernes Gewitter –, und ihr wurde noch einmal und noch deutlicher bewusst, dass sie an Ferdinand Senkhofers Stelle vielleicht genau dort hinaufgeflohen wäre. Als sie dieses Gefühl verspürte, wusste sie, was zu tun war. Pablo und Paul verständigen und gemeinsam planen, wie vorzugehen wäre. Wahrscheinlich würden sie Hosp einschalten. Und dann könnte ja die Polizei …
Sie holte das Handy aus der Tasche und tippte im Telefonbuch auf Pablos Nummer. Es verging eine geraume Zeit. Dann meldete sich eine Automatenstimme, die ihr erzählte, dass der Anschluss momentan leider nicht erreichbar sei. Sie probierte es bei Schwarzenbacher. Ebenso Fehlanzeige. Sie schob das Handy wieder in die Tasche und schaute hinauf. Ließ ihren Blick wie eine Bergdohle über den Wald fliegen, höher und höher, zu den Felsen und höher, bis es nichts mehr gab als nur mehr den blaugrauen Himmel.
Sie verleugnete das Gefühl, das ihr den Magen zum Rumoren brachte, schalt sich eine dumme Gans, die schon Gespenster sah, und verließ den Weg, der am Bahngleis entlangführte, verließ ihn und ging hinein in den Wald.
Ferdinands Wald.
Er sah sie.
* * *
»Wir könnten den gewonnenen Nachmittag für etwas anderes nutzen«, sagte Schwarzenbacher, als sie auf der Inntal-Autobahn wieder nach Innsbruck fuhren. »Wir könnten«, sagte er und schaute Pablo dabei von der Seite an, um ihm vom Gesicht die Meinung ablesen zu können, »noch rauffahren zu dem alten Staatsanwalt Kröninger. Wir haben ihm was zu verdanken.«
Pablo schien nicht gleich zu verstehen, sah einen Moment lang fragend zu Schwarzenbacher herüber.
»Ich an seiner Stelle hätte mich angepisst gefühlt, wenn da ein Bulle im Rollstuhl gekommen wäre und mir unterstellt hätte, dass nicht allen Spuren nachgegangen worden ist. Angepisst gefühlt hat er sich auch. Aber …«
Schwarzenbacher musste niesen, und er tat es laut, und es klang nass.
Mit einem zusammengeknüllten Stofftaschentuch, das er aus der Jacke zog, wischte er sich die Nase und die Hände trocken.
»Aber das muss ich ihm schon lassen: Er hat Charakter gezeigt. Hat sich ans Telefon geklemmt und ist diesen alten Geschichten nachgegangen. So ist Ipflinger überhaupt erst ins Spiel gekommen. Ich finde, wir sollten bei ihm vorbeischauen. Und falls wir unterwegs an einem Spar oder einem M-Preis vorbeikommen, könnten wir ihm ja auch noch eine Flasche Roten mitbringen. Irgendwas Gutes, muss nicht das Billigste sein.«
Als sie eine Dreiviertelstunde später vor dem Privathaus von Staatsanwalt a. D. Dr. Magnus Kröninger ankamen, hatte Schwarzenbacher eine Flasche Barbera d’Asti auf dem Schoß. Pablo musste dreimal läuten, ehe Frau Kröninger öffnete. Sie blieb auf dem Treppenabsatz stehen. Ihre strenge Miene, ihre unnahbare Art waren Schwarzenbacher noch vom ersten Besuch her in unangenehmer Erinnerung.
»Sie müssen entschuldigen, dass wir Sie einfach so überfallen«, begann er. »Aber wir waren gerade in der Nähe und dachten uns, wir könnten Ihren Herrn Gemahl, den Herrn Staatsanwalt …«
»Mein Mann ist nicht da«, sagte sie knapp.
»Dann würden wir, wenn es Ihnen recht ist, auch nur was abgeben für ihn.«
Sie war zum schmiedeeisernen Gartentor gekommen und hatte es geöffnet.
War mal eine attraktive Frau, dachte Schwarzenbacher. Sogar die heruntergezogenen Mundwinkel stehen ihr noch
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