Kalter Fels
Dunstschicht bedeckt gewesen, jetzt, um kurz nach fünf, brach die tief stehende Sonne durch die Wolken und bescherte den Menschen in der Stadt und im Umland einen überraschend schönen Ausklang des Tages.
Pablo, Schwarzenbacher und Hosp hatten keine Augen für dieses Schauspiel, in dem die Stadt glänzende Hauben aufgesetzt bekam und wo die Natur eine Viertel- oder halbe Stunde lang ihre Überlegenheit zeigte. Hier, zwischen den hohen Bergzügen, tat sie das in schöner Unregelmäßigkeit und in den verschiedensten Erscheinungsformen. Als Gewitter, das zuckend und hallend durchs Inntal zog. Als Wintersturm, der das Tal und seine Bergflanken binnen Stunden in eine weiße Landschaft verwandelte, in welcher der Verkehr zum Erliegen kam. Oder durch den Föhn, der gegen Ende eines regenreichen Tages die schweren Wolken davonblies, den Himmel polierte und weiße Wölkchen wie Wattebäusche drapierte. Oder eben durch die flüchtigen und sich rasch verflüchtigenden Pinselstriche, mit denen die Stadt an diesem frühen Abend verzaubert wurde.
»Wir sollten etwas unternehmen«, sagte Schwarzenbacher, der zwischen den beiden anderen durch die Kaiserjägerstraße rollte.
»Du weißt, dass es noch zu früh ist«, sagte Hosp. »Es gibt noch keine Rechtfertigung, den ganzen Apparat in Gang zu setzen: Handy-Ortung, Suchmannschaft und so weiter. Wir haben bisher nicht den geringsten Anhaltspunkt, wo sich Marielle herumtreiben könnte.«
Schwarzenbacher sah zu Pablo hoch. »Überleg noch einmal«, sagte er drängend. »Denk noch einmal nach, wo sie sein könnte.«
»Hab ich doch schon. Wieder und wieder. Hab rumtelefoniert. Vormittags war sie in der Uni. Ihre Freundinnen, zumindest die, von denen ich die Nummern habe, wissen auch nichts. In der Kletterhalle ist sie nicht, nicht im Tivoli und nicht im Pulverturm. Sie ist garantiert wieder zu einem ihrer Bergläufe aufgebrochen. Aber das habe ich euch ja alles schon erzählt.«
»Die Frage ist, warum sie nicht anruft«, sagt Hosp. »Wenn sie sich wehgetan hätte, wäre es logisch, dass sie bei Pablo anruft. Wenn sie sich aus irgendeinem Grund verspätet, würde sie anrufen. Würde sie doch, oder?«
Pablo nickte.
»Ich lasse einen Kollegen die Krankenhäuser abtelefonieren«, sagte Hosp. »Hier im Inntal und im Umkreis von fünfzig Kilometern. Man weiß ja nie.«
Er blieb zurück und telefonierte mit dem Kommissariat. Kurz darauf kam er mit großen Schritten auf sie zu.
»Ich muss noch mal ins Büro. Ihr werdet die Pizzas ohne mich essen müssen. Aber wir telefonieren später. Okay?« Und schon war er weg.
»Na gut«, sagte Schwarzenbacher. »Essen wir ohne den Herrn Kommissar.«
Als sie den engen Durchgang zwischen der SOWI und dem angrenzenden Geschäfts- und Bürohaus passiert hatten, sagte Schwarzenbacher:
»Ich mache mir auch Sorgen. Nur – wo sollen wir ansetzen? Ich will dir nicht zu nahe treten, Pablo, aber genauso gut, wie sie sich den Knöchel gebrochen haben kann, kann sie sich auch mit irgendeinem Typen rumtreiben. Brauchst gar nicht so bös zu schauen. Frauen sind so, das ist zumindest meine Erfahrung.«
Doch dann bemerkte Schwarzenbacher eine ganz besondere Nachdenklichkeit in Pablos Gesicht. Es schien, als hätte er irgendwann nicht mehr zugehört, als wären seine Gedanken weit abgeschweift.
»Was ist mit dir? Kommt dir grad eine Erleuchtung?«
Pablo sah ihn an, aber sein Blick schien durch alles hindurchzugehen. Es dauerte einige Sekunden, bis er sich wieder aufs Hier und Jetzt fokussierte und Schwarzenbacher den Eindruck bekam, er sei wieder voll zurechnungsfähig.
»Was?«, sagte Pablo.
»Ob du grad eine Erleuchtung hattest?«
»Eine Erleuchtung?« Pablos Gesicht war ernst. Fast ernster noch als zuvor. »Eine Erleuchtung würde ich es nicht gerade nennen. Aber in meinem Kopf verknüpfen sich gerade ein paar Details. Ich glaube zu wissen, wo Marielle ist. Zumindest so ungefähr.«
Schwarzenbacher rutschte unruhig in seinem Rollstuhl hin und her. »Spann mich nicht auf die Folter«, sagte er. »Red schon.«
Und Pablo schilderte ihm seine Vermutungen: dass Marielle in letzter Zeit ihre Bergläufe des Öfteren außerhalb des Inntals unternommen habe. Dass er sich nichts dabei gedacht hatte. War ja auch monoton, immer die gleichen Strecken zu laufen. Dass ihm jetzt aber bewusst geworden sei, dass sich diese Ausflüge – er nannte es Ausflüge – alle in derselben Region abspielten. Dass sie mehrfach über den Seefelder Sattel gefahren war, um bei
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