Kalter Fels
ansehen wollen. Sie sah den Stamm entlang empor, blickte in die Krone, hellgrünes Lärchengezweig vor einem immer noch diesigen Himmel. Sie tat, als würde sie einen Vogel beobachten, ein winziges gelbes Goldhähnchen, das in den höchsten Ästen des Baumes umherhüpfte. Und dabei versuchte sie aus den Augenwinkeln heraus ihre Umgebung zu erkunden.
Irgendwo musste jemand sein. Sie spürte es so intensiv, wie sie ein Gewitter ahnen konnte, noch bevor Wolken den Himmel verfinsterten.
Hinter einem dieser Bäume.
Sie hatte Pfefferspray im Rucksack.
Sehr praktisch, dachte sie. Ich stell also meinen Rucksack ab, pack in aller Ruhe den Spray aus und stell mich dann hin und schrei: »Komm raus, du Sau!« – und dabei halte ich die Spraydose wie die Ermittler bei »CSI New York« ihre großkalibrigen Pistolen. Lächerlich …
Sie tastete nach dem Schweizer Taschenmesser, das sie in der linken Hosentasche mit sich trug. Eigentlich war es nicht als Waffe gedacht, sondern lediglich, um einen Apfel zu schälen oder mit dem gekrümmten Metallstück eine Dose zu öffnen.
Es war ein gutes Gefühl, das Messer dabeizuhaben. Aber es war unmöglich, es mit nur einer Hand, noch dazu in der Hosentasche, zu öffnen.
Die Erfinder dieses Messers müssen doch totale Idioten gewesen sein, dachte sie. Militär. Das Schweizer Militär hat sich das ausgedacht. Klar. Das Militär ist ja auch die größtmögliche Ansammlung von Vollidioten. Bei dem Messer bricht man sich ja schon unter normalen Umständen die Nägel ab, wenn man es aufmachen will …
Doch sie wusste auch, wenn jetzt einer hinter einem Baumstamm hervorkäme, dann würde sie das Schweizer Messer aus der Tasche holen, und sie würde die Klinge aufbringen. Egal ob ihr dabei die Nägel abreißen würden und das Nagelbett zu bluten begänne.
Nimm dich in acht, Drecksau, dachte sie.
Nimm dich in acht.
Ferdinand bewegte sich nicht. Er hatte sie gesehen, und einen Moment lang war es ihm so gewesen, als hätte sie ihn auch gesehen.
Aber er schien sich geirrt zu haben.
Jetzt sah er sie nicht, denn er hatte sich vollständig hinter dem Baumstamm verborgen, aber er hörte es an ihren Schritten – sie blieben unverändert. Die Frau ging so gleichmäßig weiter wie bisher, und die Kraft ihrer Schritte wurde weder stärker noch schwächer.
Er hätte nicht sagen können, wie viele Meter genau sie von ihm entfernt war. Aber er hatte ein gutes Einschätzungsvermögen: Er hätte sie mit dem Stein, den er in der Faust hielt, treffen können und hätte sich beim Werfen nicht einmal übermäßig anstrengen müssen.
Doch das wäre riskant gewesen. Wenn er sie nicht auf Anhieb traf, würde sie wahrscheinlich losrennen, den Berg hinunter. Und auch wenn er sich in diesem wilden Gelände wie eine Gämse bewegen konnte – die Frau war jung, sehr jung, und vielleicht war sie schnell genug, ihm zu entkommen. Zudem machten ihm seine Verletzungen immer noch zu schaffen.
Ich muss warten, dachte er.
Er dachte an Hedwig und was die hin und wieder mit ihm machte, wenn er badete. Es war ein schönes, warmes Gefühl. Und er stellte sich vor, wie schön es wäre, wenn die Frau, die durch den Wald streifte, das Gleiche mit ihm machen würde.
Ich darf sie nicht totmachen, dachte er.
Nicht gleich totmachen.
Wieder surrte Marielles Telefon. Sie umfasste es mit der ganzen Hand und dämpfte den Ton. Dann nahm sie es aus der Tasche und schaltete es ab. Ihr Verstand sagte ihr, dass es ein großer Fehler war. Ihr Instinkt aber flüsterte, dass sie genau richtig gehandelt hatte.
Sie hatte Pablos Kennung am Display gesehen.
Ich hätte den Anruf entgegennehmen sollen, sagte ihr die Vernunft. Entgegennehmen und ihm klarmachen, wo ich bin und was ich vermute und dass ich ihn brauche. Ihn, Hosp, Schwarzenbacher – auch wenn der in seinem verdammten Rollstuhl nur unten am Parkplatz stehen und heraufschauen könnte. Es wäre ihr schon verflucht lieb gewesen, ihn jetzt in nicht zu großer Ferne zu wissen …
Sie hatte aber auf die intuitiven Warnungen gehört, und es würde sich zeigen müssen, ob ihre Entscheidung gut gewesen war: Geh nicht ans Telefon! Stell keinen Kontakt zur Außenwelt her! Die Situation ist auch so gefährlich genug! Wenn du auch nur den Anschein machst, als würdest du Hilfe herbeiholen wollen, dann kann alles eskalieren.
Sie stieg langsam, ganz langsam weiter bergauf. Setzte dabei jeden Schritt so vorsichtig und atmete so leise, dass ihr möglichst kein Geräusch in ihrer
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