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Kalter Fels

Kalter Fels

Titel: Kalter Fels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Koenig
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Umgebung entging. Sie machte einige Schritte, blieb abrupt stehen und wandte sich um.
    War jemand hinter ihr? Im Gelände unterhalb ihres Standortes?
    Nichts. Keine Spur. Kein Geräusch.
    Und doch wurde sie das Gefühl nicht los, dass irgendjemand da sein musste. Vielleicht hundert Meter von ihr entfernt, vielleicht auch nur fünfzig. Oder noch weniger …
    Ich habe mich getäuscht, dachte sie. Ich muss mich getäuscht haben.
    Doch sie schenkte sich selbst keinen Glauben.
    Red dir nichts ein, dachte sie. Du hast etwas gesehen, etwas gespürt, und sie dachte das nicht nur, sie sagte es ganz leise zu sich selbst.
    »Irgendwer ist da, und dieser Irgendwer meint es nicht gut mit dir, Marielle« – sie sagte ganz leise: »Marie-le«, verwendete die Verniedlichungsform, mit der sie als Schülerin oft gehänselt worden war.
    »Wenn er es gut meinen würde«, murmelte sie vor sich hin, »dann müsste er sich nicht verstecken. Dann könnte er aus der Deckung kommen und ›Hallo‹ sagen. Macht er aber nicht.«
    Sie drehte sich um, sondierte das Gelände über ihr: immer lichter werdender Bergwald und darüber Felsen. Zwischen den Stämmen der Bäume hindurch konnte sie sehen, dass es weiter oben immer felsiger wurde.
    Sie wandte sich wieder dem Tal zu. Alles war unverändert.
    In ihrer Nähe lag ein umgestürzter Baum; da setzte sie sich hin. Sie nahm den Rucksack ab und blieb im Sitzen sprungbereit.
    Den Rucksack stellte sie zwischen ihre Füße, öffnete ihn und holte, ohne dass ein Beobachter das hätte erkennen können, ihren Pfefferspray nach oben. Dann nahm sie den Apfel heraus und zog ihr Schweizer Messer aus der Tasche. Beim Öffnen taten ihr die Finger weh, aber jetzt hatte sie zwei Waffen: Pfefferspray und Taschenmesser. Keine davon war besonders viel wert. Aber eine jede war besser als nichts.
    Marielle schnitt den Apfel in vier Stücke und entfernte aus jedem Schnitz das Kerngehäuse.
    Was für eine bizarre Situation, dachte sie.
    Wenn mich wirklich einer beobachtet – und ich habe keine ernsthaften Zweifel daran –, dann muss er mich für verrückt halten. Unter allen Umständen! Denn wenn er annimmt, ich wüsste von seiner Anwesenheit, dann ist es doch wohl ziemlich absurd, sich hinzuhocken und in aller Seelenruhe einen Apfel zu essen. Und wenn er davon ausgeht, dass ich nichts von seiner Existenz weiß, dann ist das genauso verrückt. Was macht eine Frau allein hier in diesem weglosen Gelände? Steigt sie hier herauf, um dann einen Apfel zu essen?
    Unablässig beobachtete sie den lichten Wald, der sich zur Straße hinunter erstreckte. Sie konnte die Autos vorbeirauschen hören. Sie wäre jetzt gerne dort unten gewesen – aber es war ein weites, einsames, gottverlassenes Stück karger Landschaft bis dorthin.
    Marielle versuchte, die Situation analytisch anzugehen: Über ihr wurde das Gelände steiler, alpiner, felsiger. Dort oben war zumindest mit leichter Kletterei zu rechnen. Und wenn sie immer weitersteigen und weiterklettern würde, müsste sie irgendwann oben auf der Brunnsteinspitze oder der benachbarten Rotwandlspitze ankommen.
    Das war eine Möglichkeit. Sie würde wohl mehrere Stunden aufsteigen müssen, sie würde in die Nacht kommen und sie unter Umständen im Freien verbringen müssen. Sie hatte keine Zweifel, den Beobachter, wenn er ihr denn folgte, im steileren Gelände abschütteln zu können.
    Sie wusste um ihre außerordentlichen bergsteigerischen Qualitäten, und durch ihre vielen Bergläufe hatte sie sich eine phantastische Kondition zugelegt.
    Es würde ein Katz-und-Maus-Spiel sein – und im schwierigen Gelände könnte sie die Katze sein.
    Auch zweifelte sie nicht daran, eine Nacht auf zweitausend Metern zu überstehen – mit schlechter Ausrüstung, ohne Schlafsack, ohne Mütze, ohne alles.
    Das wird eine beschissene Nacht, dachte sie. Aber ich hab schon beschissenere erlebt.
    Sie suchte nach Alternativen.
    Die schlechteste von allen war die, hierzubleiben und zu warten, bis der Abend zu dämmern begann. Allein der Gedanke daran ließ sie beinahe in Panik geraten.
    Ich werde nicht hierbleiben! Keinen Augenblick länger als unbedingt nötig!
    Sie entschied sich für eine dritte Möglichkeit.
    Sie wusste, dass es vielleicht die gefährlichste war. Aber es war ihrer Ansicht nach zugleich die erfolgversprechendste.
    * * *
     
    Am späten Nachmittag wurden die Altstadthäuser von Innsbruck in ein geradezu goldenes Licht getaucht. Den ganzen Tag über war das Inntal von einer grauen

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