Kalter Fels
scheinen sie sich wieder in Luft aufzulösen. Aber wenn du mich fragst, ich war bei der Frau von Anfang an skeptisch …«
»Das bin ich auch. Und doch glaube ich, dass etwas dran ist an ihrem Verdacht.« Marielle schob eine Kartenhülle zur Seite. »Weiter, lass uns weiterdenken. Gibt es irgendetwas, das diese Toten miteinander in Verbindung bringen könnte? Ich meine, abgesehen davon, dass sie alle durch Steinschlag getötet worden sind.«
»Nicht so schnell«, sagte Pablo. »Zuerst sollten wir uns vor Augen halten, was wir eigentlich suchen. Im Moment wissen wir nicht, ob es sich um Morde oder um Unglücksfälle gehandelt hat. Wenn es Unglücksfälle waren, gibt es wohl kaum einen inneren Zusammenhang. Dann waren es Zufälle, Schicksalsschläge für die jeweils Betroffenen, Bergtragödien. So was hätte jedem passieren können – und zwar nicht nur da, sondern auch überall sonst in den Bergen …«
»Davon gehen wir aber nicht aus«, unterbrach ihn Marielle. »Wir denken …«
»… dass es sich um unaufgeklärte Gewaltverbrechen handelt. Vielleicht haben wir und Schwarzenbacher und Reuss ja unrecht. Aber wir müssen von dieser Hypothese ausgehen: Fünf Orte – fünf Tatorte. Fünf Ermordete – ein Täter oder mehrere. Das ist für mich der Ansatz«, erwiderte Pablo.
Marielle nickte. Sie nagte auf ihrer Unterlippe herum, dachte angestrengt nach. Was zeigten die Landkarten? In welcher Beziehung standen die Orte zueinander? Hatten sie irgendetwas miteinander zu tun?
»Weißt du, was wir machen sollten?« Es war keine Frage. Oder es war eine Frage, aber sie gab die Antwort darauf gleich selbst: »Wenn wir alle Punkte miteinander verbinden würden, mit dem Lineal oder mit Bindfaden, sodass dann jeder Punkt mit jedem anderen verbunden ist … du weißt, was ich meine … Kann es sein, dass sich dann irgendein markanter Kreuzungspunkt ergibt? Ich weiß schon, es wäre ja eigentlich viel zu simpel, wenn das dann der Ort wäre, wo unser Tatverdächtiger lebt.«
Pablo kniete vor den Karten und beugte sich weit nach vorn. Er schien ihre These überdenken zu wollen. Gab es jedoch schnell auf.
»Es gibt keinen markanten Kreuzungspunkt«, sagte er. »Ich war zwar nie besonders gut in Mathematik, aber da bin ich mir ziemlich sicher: Eine Kreuzung ergibt das nicht. Aber ich glaube …«
Er stand nachdenklich auf und holte sich einen Schmierzettel und einen Filzschreiber. Er setzte fünf Punkte drauf – in etwa so verteilt wie auf den Karten, nur in wesentlich kleinerem Format – und begann damit, alle Punkte durch Linien miteinander zu verbinden. Das Ergebnis war, zumindest auf den ersten Blick, nicht sehr aussagekräftig.
»Es gibt keine Kreuzung«, unterstrich Pablo seine Vermutung von vorhin. »Siehst du«, sagte er zu Marielle, die ihm über die Schulter schaute, »es gibt ein Gewirr von Linien und dadurch eine ganze Menge Kreuzungspunkte. Aber es gibt keine dominierende Kreuzung, keinen Punkt, in dem alles zusammenläuft.«
»Gib mal her«, sagte Marielle. »Den Stift auch.«
Sie begann, einige der Linien nachzuziehen.
»Schau dir das mal an«, sagte sie nach einer Weile. »Wenn wir immer die äußeren Verbindungslinien ignorieren, dann bekommen wir so eine Art Weihnachtsstern. So einen, wie er elektrisch beleuchtet in der Weihnachtszeit in vielen Fenstern hängt. Viel gedrungener, zugegeben. Aber immerhin so eine Art Stern.«
»Was aber immer noch keine Kreuzung ergibt«, sagte Pablo.
»Das nicht. Aber im Zentrum des Sterns gibt es so eine Art krummes Rechteck. Ich weiß nicht mehr, wie man diese Form in der Geometrie nennt. Ich glaube, es heißt Drachenrechteck oder so ähnlich.«
Pablo fuhr sein MacBook hoch und gab bei Google »Drachenrechteck« ein. Binnen Sekunden lieferte die Suchmaschine eine so verwirrend große Anzahl von Seiten, die sich mit mathematischen Drachen, konvexen Drachen, Deltoiden befassten, mit Innenkreisen und halbierten Diagonalen, dass Pablo Marielle nur mehr fragend ansehen konnte.
»Kennst du dich mit so was aus?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ist aber auch nicht so wichtig, wie dieses Viereck heißt. Im Gegenteil, es ist eigentlich ziemlich egal, oder?«
»Für die Toten ist es egal«, sagte Pablo. »Und für unsere Nachforschungen vermutlich auch. Aber jetzt, wo du das aufgebracht hast, möchte ich es genau wissen.«
Ihm fiel ein, dass er im Durcheinander seines Bücherregals auch noch ein mathematisches Nachschlagewerk haben musste. Und in der Tat. Der
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