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Kalter Fels

Kalter Fels

Titel: Kalter Fels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Koenig
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Frucht, hungrig und durstig aß er das Fruchtfleisch, nein, er fraß es so, wie ein halb verhungerter Fuchs über ein totes Tier hergefallen wäre, und zuletzt zerbiss, zerkaute und schluckte er die Schale.
    Nie zuvor in seinem Leben hatte ihm eine Zitrone so gut geschmeckt wie in diesem Augenblick.
    Er dachte auch an den Speck und das Brot. Aber davon hätte er jetzt keinen Bissen hinuntergebracht. Er wollte nur etwas Saftiges, Saures, das ihm wie von selbst in den Mund und Magen glitt.
    Ich bin ein dummer Mensch, dachte er. Ein dummer Mensch! Warum nur eine Zitrone? Warum habe ich nur eine Zitrone mitgenommen? Zwei oder drei oder vier hätt ich mitnehmen müssen. Gibt Kraft.
    Ferdinand glaubte sich zu erinnern, im vorderen Drittel des Tales ein paar Stadel gesehen zu haben – vor einigen Jahren, als er zum bislang letzten Mal dort gegangen war. Dorthin müsste er gehen. Wenn es sie noch gab, wenn sie nicht längst in sich zusammengefallen waren, dann konnten sie ihm Unterschlupf gewähren, ihn ein bisschen vor der Kälte schützen. Dort, da war er sich jetzt sicher, würde er diese Nacht überleben können.
    Er quälte sich weiter, Meter für Meter, Schritt für Schritt. Oft blieb er stehen, um wieder zu Atem zu kommen. Bisweilen legte er den Kopf in den Nacken und sog die kalte Luft ein bis tief in die Lungenspitzen. Dabei sah er in den Sternenhimmel.
    So viele Sterne, dachte er. So viele goldene Punkte. So klein …
    Einmal, als er wieder den Kopf zum Himmel hob, sah er, dass der Himmel nicht mehr schwarz war. Er rieb sich die Augen, glaubte nicht, was er sah. Aber es stimmte: Es hatte sich ein Grauton hinzugeschlichen, der Morgen kam, die Sterne wurden weniger.
    Der Morgen!
    Niemand darf mich sehen, dachte er. Solange ich lebe. Niemand.
    Die Angst, entdeckt zu werden – auch wenn weit und breit niemand war und eigentlich auch niemand sein konnte –, setzte letzte Kraftreserven frei.
    Er wühlte sich durch den Schnee, der nun zum Glück nicht mehr ganz so tief war, ihm aber immer noch bis zu den Knien reichte. Er war jedoch bereits so erschöpft, dass er alle zehn Schritte stehen bleiben musste, um auf die Knie gebückt zu verschnaufen.
    Es verging bestimmt noch eine Dreiviertelstunde, während der das Grau am Himmel immer heller und dominierender wurde, während der die Sterne verschwanden, nur noch einer wie ein winziges goldenes Stecknadelköpfchen herunterleuchtete, ehe er auf die Hütten stieß.
    Ein Stück abseits des Talbodens, von kahlen Lärchen kaum verborgen, sah er sie als dunkle Rechtecke mit dicken weißen Schneedächern im Morgengrauen stehen.
    Bis hierher hatte er es geschafft. Aber noch war nicht sicher, dass er auch Schutz würde finden können. Vielleicht waren die Hütten verrammelt und verriegelt, und er würde nirgends eine Möglichkeit haben, hineinzukommen. Er mochte nicht daran denken. Er war mit seinen Kräften am Ende. Und auch wenn er sich gewiss war, dass es jetzt wohl nur mehr zwei Stunden waren bis hinab und hinaus zu Hedwig, so glaubte er doch, diese zwei Stunden nicht mehr schaffen zu können.
    Und außerdem: Er konnte nicht einfach so daherkommen, bei Tageslicht. Er würde gesehen werden, vielleicht erkannt werden, und dann war das lange gehütete Geheimnis gefährdet. Er musste abwarten, bis es wieder Nacht sein würde.
    Er bahnte sich einen Weg zu den Hütten. Es waren drei: eine größere mit verriegelten Fensterläden, eine etwas kleinere, ein Schuppen nur, auch der versperrt, und ein wenig abseits die dritte, die sich bei genauerem Hinsehen als ein nach einer Seite offener Stall erwies.
    Ferdinand unterzog die Bauten einer gründlichen Inspektion. Die große Hütte war mit eisernen Klammern an Tür und Fensterläden gesichert – ohne Werkzeug kam er da nicht hinein. Und selbst mit hätte es lange gedauert und hätte auch seine Kräfte überstiegen. Der Stall war besser als nichts, aber er war offen, die Holzwände hatten Ritzen, viel Schutz bot dieser Verschlag nicht. Blieb der Stadel. Auch an ihm war die Tür mit einem Eisenriegel gesichert. Aber Ferdinands Instinkte sagten ihm, dass diese Holzhütte eine Schwachstelle hatte, haben musste. Er würde nur lange genug suchen müssen: Irgendwo gab es eine Möglichkeit, hineinzukommen. Und das würde bedeuten, dass er ausruhen und den nächsten Abend abwarten konnte.
    Er umrundete den Stadel, zog dabei eine tiefe Spur im Schnee einmal um das Gebäude – und fand nichts. Er ging zum zweiten und zum dritten Mal um die

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