Kalter Fels
Fenstern auf, klappte die Läden zur Seite. Jetzt drang genug Licht in die Hütte, sodass er sich zurechtfinden konnte.
Groß war die Hütte nicht. Da stand ein Holzherd im Eck, gegenüber ein Tisch mit Eckbank und zwei Stühlen; am anderen Ende des Raumes war ein Stockbett angebracht, daneben stand ein Schlafsofa aufgeklappt. Ferdinand schloss die Tür, entledigte sich seiner gesamten Kleidung und hüllte sich in eine kratzige graue Decke, die er vom oberen Stockbett nahm. Eingewickelt in die Decke inspizierte er den Raum. Er hätte gerne etwas Warmes zu essen oder zu trinken gehabt, doch der Herd war kalt. Natürlich war er kalt. Wahrscheinlich war seit Wochen oder Monaten niemand mehr hier gewesen. Auf dem Herd lagen nur ein paar große Steine, wie sie die Bergbauern gern nutzten, um vor dem Schlafengehen ihre Betten damit anzuwärmen. In einem kleinen Kästchen über der Eckbank fand er eine Flasche voll mit klarem Schnaps. Davon trank er zwei kräftige Schlucke. Er spürte, wie sich der Schnaps seine Speiseröhre in den Magen hinunterbrannte. Und als dieses Brennen nachließ, breitete sich wohlige Wärme in seinem ganzen Körper aus. So wohlig, dass er lachen musste, laut lachen, und jetzt klang es nicht mehr ganz so wie das Röcheln eines Sterbenden.
Er nahm das Brot und den Speck aus seinem Rucksack, aß von beidem ein wenig, aber richtigen Hunger hatte er noch immer nicht. Eine Zitrone, ja die hätte er mit Gier verschlungen, am liebsten gleich samt Schale …
Ferdinand trug alle Decken, die er auf den drei Betten fand, auf dem Schlafsofa zusammen. Dann zog er die Fensterläden von innen her zu, schloss die Fenster und die Tür, ließ den Schlüssel im Schloss stecken.
Er tapste im Dunkeln zu seiner Schlafstelle, setzte sich hin, wollte sich schon unter die Decken legen, da fiel ihm noch etwas ein.
Wenn jemand kommt, dachte er, sieht er, dass eingebrochen worden ist. Draußen hängen die Riegel herunter, die äußere Tür steht auf, der Schuppen hat ein Loch.
Gut, dachte er, ich habe zugesperrt. Der Schlüssel steckt. Da kommt keiner so leicht rein.
Wenn aber doch? Wenn doch wer reinkommt, und ich schlaf wie tot und merk nix?
Er stand noch einmal auf, tastete sich im Dunkeln zurück zum Herd und suchte sich nur mit dem Gefühl seiner Hände einen der Steine aus. Einen, der gut in der Hand lag. Den nahm er mit in sein Bett. Mit unter die Decken. Am Anfang fühlte sich der Stein eisig an, aber das wurde rasch besser. Und vor allem: Er hatte jetzt ein gutes Gefühl.
Wenn doch wer reinkommt, dachte er, wenn irgendwer reinkommt und mich überrascht im Schlaf …
Er war schon fast zu müde, um seine Gedanken noch zu Ende zu bringen. Doch diesen Gedanken schaffte er noch, bevor er am beginnenden Tag in tiefe Nacht verfiel:
Wenn doch einer kommt, dann kann ich ihn mit dem Stein erschlagen. Einfach mit dem Stein erschlagen. Auf den Kopf hauen … mit dem Stein … mit dem Stein …
* * *
Es waren dies die Tage und Nächte, in denen der eigentlich längst vorübergegangene Winter die meisten Opfer forderte. Selbst in Hochlagen hatte es schon seit Wochen nicht mehr geschneit. Die Temperaturen waren ständig gestiegen, der Frühling hatte Einzug gehalten, überall schmolz der Schnee dahin. Doch weit oben gab es noch griffigen Firn, der die Skitourengeher lockte. Allerdings war es ein Trugschluss, dass um diese Jahreszeit nicht mehr allzu viel passieren konnte.
Zwar gab es keine Staublawinen mehr, wie sie entstanden, wenn sich eine hohe Pulverschneeschicht an einem Hang löste und tosend zu Tal rauschte. Dieser Art von Lawinen ging immer eine gewaltige Druckwelle voraus, die selbst Bäume wie Zahnstocher knicken konnte.
Dafür gab es jetzt, im alpinen Frühjahr, die verheerenden Grundlawinen. Bedingt durch die Sonneneinstrahlung und die erhöhte Erwärmung löste sich der völlig gesetzte Schnee als riesige Platte direkt am felsigen und waldigen Untergrund. Wer solch einer Grundlawine in die Bahn geriet, hätte sich genauso gut gegen einen Dreißigtonner stemmen können, der mit hundertzehn Stundenkilometern auf ihn zugerast kam.
In der österreichischen Silvrettagruppe wurden Skibergsteiger des Alpenvereins von einer Grundlawine erfasst und über einen Steilabbruch vierhundert Höhenmeter hinabgerissen. In den Bayerischen Voralpen, wo die Berge nicht hoch waren und einen ziemlich ungefährlichen Eindruck machten, erdrückte ein Schneebrett einen Vater, der mit seinem fünfjährigen Sohn nur auf
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