Kalter Fels
Hütte, ohne eine Schwachstelle entdecken zu können.
Jetzt kam Angst in ihm auf, eine Erregung, die ihm nicht vertraut war, an die er sich zwar vage erinnern konnte, mit der umzugehen er aber nicht gelernt hatte, nicht hatte lernen müssen: Angst hatte in seinem Leben nie eine besondere Rolle gespielt … Jetzt aber zitterten seine Hände, und daran war nicht allein die Kälte schuld: Ferdinand fürchtete, hier bei den Häusern zu krepieren.
Lachhaft, dachte er. So was von lachhaft. Alles überstanden, keine Lawinen, nicht im Schnee erfroren, und dann sterben, weil die Hütten dicht sind. Lachhaft, lachhaft, lachhaft. Und er lachte wirklich, ein abgehacktes, aus dem Bauch gepresstes Lachen, das eher wie das Röcheln eines Schwerstkranken auf der Intensivstation klang.
Er umrundete die Hütte noch einmal, langsamer noch als all die Male zuvor. Schritt für Schritt im jetzt schon gepressten Schnee. Und dann spürte er, dass er auf etwas Hartes trat. Auf einen Stein vielleicht? Ein Stein konnte ein Werkzeug sein.
Er warf sich auf die Knie und begann, mit bloßen Händen den Schnee wegzugraben. Was er fand, überstieg seine kühnsten Hoffnungen: Nach ein paar Minuten hatte er eine schwere Hacke ausgegraben. Sie hatte eine breite Haue, eine lange Spitze, nur dass der Stiel abgebrochen und nicht mehr viel länger als ein halber Meter war, enttäuschte ihn ein bisschen.
Doch zugleich versetzte ihn dieser Fund in Euphorie. Mit dieser Spitzhacke würde er sich Zugang verschaffen können. Er stapfte hinüber zum Haupthaus, bekam dort aber Zweifel, ob das die richtige Entscheidung war. Die Wände waren aus massiven Holzbalken, die Tür wirkte schwer und stabil, und der Riegel davor machte auch nicht den Eindruck, als ließe er sich leicht aus den Verankerungen reißen. Er schaute hinüber zum Stadel, wo er die Hacke gefunden hatte. Warum war er nicht gleich darauf gekommen! Bestimmt gab es genug Gerümpel darin, dass er sich ein halbwegs wärmendes Nest daraus bauen konnte. Und vor allem: Die Wände waren nicht massiv, sondern bestanden aus grob gehobelten Brettern – da müsste ein Eindringen leicht möglich sein.
Auf der dem Tal abgewandten Seite des Stadels setzte Ferdinand in einer Fuge zwischen den Brettern die Spitzhacke an. Das Holz gab gleich ein wenig nach, doch er musste seine ganze noch verbliebene Kraft aufwenden, um das Brett so weit nach draußen zu biegen, bis es zerbarst. Nun hatte er eine schmale Öffnung. Die beiden Bretter links und rechts davon riss er mit den Händen heraus, zog sich dabei in der rechten so massive Spreißel ein, dass ihm das Blut aus dem Handballen tropfte. Doch seine Hand war so taub von der Kälte, dass es ihm nichts ausmachte. Außerdem war er so froh darüber, diesen Unterschlupf gefunden zu haben, dass ihm ein bisschen Schmerz nichts ausgemacht hätte.
Er hatte riesiges Glück gehabt.
Und das Glück meinte es sogar noch besser mit ihm.
Durch den Spalt in der Hüttenwand drang viel zu wenig Licht ein, als dass Ferdinand hätte sehen können, was sich hier herinnen befand. Er tastete sich durch den kalten Raum, stieß mit den Füßen gegen irgendwelches Zeug, das am Boden lag, haute sich das Schienbein an, war auf der Suche nach einem Platz, wo er sich hinlegen konnte, hoffte auf Heu in einem Winkel des Stadels oder, besser noch, auf eine alte Matratze.
Er fand weder das eine noch das andere, aber er erfühlte einen Tisch oder eine Werkbank oder so etwas Ähnliches – und darauf ertastete er einen kalten, aus vielen Einzelstücken bestehenden Schlüsselbund.
Er kroch damit wieder hinaus ins Freie, stapfte hinüber zum Haupthaus und probierte, ob einer der Schlüssel in das Vorhängeschloss passte, das den schweren Eisenriegel sicherte. Er musste nicht lange suchen, schon der dritte Schlüssel drang in den gezackten Spalt, ließ sich drehen und das Schloss aufklicken.
Ferdinand entfernte den Riegel und klappte die Tür auf. Doch die war nur eine Vortür, so etwas wie die Läden vor den Fenstern. Dahinter kam eine weitere Tür zum Vorschein. Sie hatte ein Sicherheitsschloss, doch der Schlüssel dazu hing ebenfalls am Bund. Ferdinand war im Haus.
Durch die offenen Türen fiel Licht ein. Schwach noch, aber immerhin.
Jäger, dachte er. Jagdhütte.
An der Wand im Eingangsbereich hingen jede Menge Geweihe und Hörndl von Rehböcken und Gämsen. Aber das interessierte ihn nicht. Was er brauchte, war eine Schlafstatt.
Er ging noch einmal hinaus, sperrte die Eisenriegel vor den
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