Kalter Fels
einer Forststraße zu Tal hatte rodeln wollen. In der Ortlergruppe wurden Eiskletterer aus der schwierigen Wand gerissen. Bei Chamonix, Ischgl, Cortina wurden Snowboardfahrer Opfer der Lawinen, und in den südlichen Zillertaler Alpen schob eine gewaltige Grundlawine sogar ein hoch gelegenes Berghaus in sich zusammen – der Hüttenwirt und seine Frau, die eben damit begonnen hatten, die Hütte zur Öffnung für die neue Bergsaison vorzubereiten, wurden zwischen Schutt und hart gepresstem Schnee erdrückt.
Im Land vor den Bergen nahte bereits ein sommerlicher Vorbote; die Thermometer kletterten auf beinahe zwanzig Grad. Doch das war trügerisch. Im Hochgebirge schien sich der Winter mit Gewalt gegen sein Ende zu wehren. Und die Alpenvereine in der Schweiz, in Frankreich, Österreich, in Deutschland und in Südtirol gaben immer noch Lawinenwarnungen heraus. Täler, in denen gewaltige Bergflanken fußten, waren besonders gefährdet. Täler, wie es sie im Wettersteingebirge gab – und natürlich im Karwendel.
Noch war der Winter nicht vorbei.
* * *
Hedwig Senkhofer erschrak zum ersten Mal, als es abends gegen elf an das Fenster ihrer Küche klopfte. Sie war noch auf, saß am Küchentisch und las in einem Buch, das sie in der Bibliothek der Pfarrei geliehen hatte.
Sie fragte sich besorgt, wer das um diese Zeit noch sein konnte. Sie lebte sehr zurückgezogen, bekam fast nie Besuch, um diese späte Stunde schon gar nicht.
Zum zweiten Mal, und diesmal noch viel heftiger, erschrak sie, als sie die Tür öffnete und ihr Bruder draußen stand, abgerissen, heruntergekommen, nass, zitternd, in eine Decke gehüllt wie ein Schiffbrüchiger.
Doch ihr Erschrecken lähmte sie nicht eine Sekunde lang. Sie zog Ferdinand ins Haus, schob ihn in den Flur, trat selbst vor die Tür, spähte nach allen Seiten, um herauszufinden, ob ihn jemand beobachtet haben könnte, ging dann hinein, schloss die Tür und sagte mit erstickter Stimme: »Allmächtiger! Was machst du hier? Wie kommst du hierher?«
Sie wartete die Antwort nicht ab, sondern zog die Vorhänge zu. Auch wenn das Haus allein und etwas abseits vom Ort lag, wollte sie doch auf Nummer sicher gehen.
Niemand durfte ihn sehen.
Ihr Bruder Ferdinand Senkhofer war vor fünfunddreißig Jahren zu einer Cousine nach Australien gereist – und hatte sich entschieden, nicht mehr zurückzukommen. Es hatte einige Zeit lang Gerede gegeben damals, aber das hatte sich bald gelegt. Wirklich abgegangen war er ja niemandem. Wirklich brauchen hatte ihn ja nie jemand können. Die Leute hatten ihn schnell vergessen.
Er war in Australien. Nicht hier. Hier durfte er nicht sein.
»Hat dich jemand gesehen?«, fragte sie ihn, und ihre Stimme klang fast hysterisch.
Ferdinand schüttelte den Kopf. Er sah seine Schwester mit großen Augen an. Seit Monaten hatte er sie nicht mehr gesehen. Ihr Haar war grauer als im Herbst.
»Wirklich nicht? Bist du dir sicher, dass dich niemand gesehen hat?«
»Niemand.« Jetzt sagte er etwas. »Niemand. Hab gewartet, bis es dunkel war. Bin dann erst aus die Berg raus. Alles war finster. Niemand auf der Straße. Niemand, der mich gesehen hat.«
Hedwig war zumindest ein wenig beruhigt.
Erst jetzt fand sie die Zeit, ihren Bruder zu mustern. Was sie sah, konnte sie nicht erschüttern, auch wenn es schlimmer noch war als sonst, wenn sie im späten Frühjahr erstmals wieder zur Almhütte hinaufgestiegen kam. Sein Haar war lang, verfettet und verfilzt, ebenso sein Bart. Seine Kleidung war nass, die Hosen schneeverklebt, alles stank, der ganze Mann stank, und dort, wo er stand, bildeten sich Pfützen auf dem Boden.
Er bot einen jämmerlichen Anblick, und Hedwig wusste nicht, womit sie nun anfangen sollte: ihm etwas Wärmendes umhängen, ihm einen heißen Tee machen oder ihn als Erstes in ein dampfendes Bad stecken.
Sie entschied sich dafür, mit dem Bad zu beginnen.
»Zieh dich aus«, sagte sie. »Hier auf der Stelle. Alles runter und einfach liegen lassen. Ich kümmer mich drum.«
Sie holte ihm eine Decke und hielt sie ihm hin. »Häng dir das derweil um, ich lass dir eine Badewanne einlaufen.«
Das Badezimmer war einfach ausgestattet. Alte graue Fliesen an der Wand, ein Waschbecken, ein Spiegel, die Toilette, daneben eine Waschmaschine, die schon viele Jahre auf dem Buckel hatte, und die Wanne, die nicht mehr sauber zu kriegen war. Sie wirkte grindig – aber so wirkte Ferdinand ja auch.
Aus dem Chromwasserhahn, der jeglichen Glanz verloren hatte, kam das
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