Kalter Fels
Pablo eine Antwort kam:
»Es ist entweder einer, der diesen Mann gehasst hat, oder es ist ein Verrückter. Ich kann dir nicht sagen, woher dieser Glaube bei mir kommt, aber irgendwie bin ich der Meinung, dass Letzteres zutrifft. Ein Verrückter. Und aus dieser Verrücktheit heraus hat er dann im Stubai und im Rofan und im Karwendel – und wo noch?, ach ja, im Kaiser weitere Menschen umgebracht. Zufallsopfer. Die hatten einfach das Pech, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Das ist meine Meinung.«
»Es ist aber viel Zeit vergangen zwischen dem Mord an Mannhardt und den weiteren Fällen. Insgesamt Jahrzehnte. Da kann ich mir keinen Reim darauf machen.«
Ohne noch daran zu denken, wie wenig sie heute mit sich selbst zufrieden war, kam sie ins Zimmer. Sie war nackt und bloß bis auf die Ohrstecker aus Silber und kleinen Opalen und das Fädchen des Tampons, der fast unsichtbar zwischen ihren Beinen baumelte.
Sie sah Pablos Blick und die kleine Enttäuschung darin. Wenn sie ihre Tage hatte, schlief sie nie mit ihm. Sie würde zwar gleich zu ihm ins Bett hüpfen und sich an ihn kuscheln – aber nur, um dann noch eine Stunde lang mit ihm über verrückte oder nicht verrückte Mörder zu reden.
* * *
Der dritten Wannenfüllung mischte Hedwig ein Schaumbad bei. Es roch nach Melisse.
Ferdinand lag glücklich wie ein Kind im schäumenden und duftenden Bad. Hedwig wusch ihm die Haare mit Unmengen Shampoo. Zuerst hatte sie gedacht, dass es gut wäre, ihm den Pelz vom Kopf zu schneiden und den Schädel zu rasieren. Damit wäre der ganze verlotterte Kopfputz beseitigt. Dann aber wurde ihr bewusst, dass er mit kurzen oder gar keinen Haaren leichter wiederzuerkennen wäre als mit langer Mähne und einem Bart, der das Gesicht weitgehend verhüllte.
Sie hatte ihn noch nicht gefragt, warum er die Almhütte verlassen hatte. Was ihn dazu getrieben hatte, sein Leben in diesem lawinenträchtigen Abstieg zu riskieren. Und ob er überhaupt eine Vorstellung hatte, wie es jetzt weitergehen sollte. Zurück konnte er nicht. Nicht jetzt. Frühestens in einigen Wochen.
Sie nahm einen Waschlappen und rieb ihn voll Seifenschaum. Im zweiten Waschgang hatte sie ihren Bruder mit der Bürste abgeschrubbt, anders wäre dem Schmutz von Wochen gar nicht beizukommen gewesen. Nun kam die Schlussrunde, ein »menschlicheres« Waschen, das sogar noch einen angenehmen Duft auf der Haut hinterlassen würde.
Sie wusch ihm die Stirn und den Hals, die Ohren und hinter den Ohren. Sie massierte ihm mit dem seifigen Waschlappen den Rücken und die Arme.
Sie kauerte sich ans andere Ende der Wanne und wusch ihm die Füße, die Beine, und es freute sie, wie ihr Bruder dabei entspannte und genoss.
Er war für sie da gewesen, sie war für ihn da.
Sie wusch ihn zwischen den Beinen und sah mit einem kurzen Lächeln, wie sich sein Glied aufstellte. Sie griff es mit dem Waschlappen und rieb es vorsichtig und dabei zupackend, langsam und dabei allmählich immer schneller werdend.
Seit damals hatte sie kein sexuelles Bedürfnis mehr, keine Wünsche, keinen Traum. Seit damals hatte sie keinen Mann mehr gewollt und keinen mehr berührt – ihren Bruder ausgenommen. Und das war doch das Mindeste, was sie für ihn tun konnte, alle paar Wochen mal in all den Jahren.
Als alles vorüber war, gab sie ihm den Waschlappen.
»Wasch ihn aus«, sagte sie, und ihre Stimme klang dabei weder freundlich noch unfreundlich. Hätte sie gesagt: »Hol Kartoffeln aus dem Keller« oder: »Zieh dir Hausschuhe an«, es hätte wohl ganz ähnlich geklungen.
Sie trat ans Waschbecken, wusch sich die Hände und sagte dann: »Trockne dich gut ab. Ich mach dir was zu essen. Bratkartoffeln und eine Scheibe Fleischkas hab ich noch da. In einer Viertelstunde musst fertig sein.«
Sie ging in die Küche.
An der Badtür drehte sie sich noch einmal um. Ferdinand schaute nirgendwohin. Er schien einfach nur glücklich zu sein. Bei ihr im Haus. Hier in der Badewanne. Einfach glücklich.
Sie war es nicht.
6
Die Ski schnitten kaum einen Millimeter in den gefrorenen Firn. Bei jedem Schritt bergauf kratzten die scharfen Kanten, und die Aufstiegsfelle zischelten ganz ähnlich dem besonderen Klang, wenn eine Frau im kleinen Schwarzen und mit Nylons ihre Beine betont langsam übereinanderschlägt.
Es war erst nach halb sieben, der Morgen kam zaghaft, aber kalt. Jeder Atemzug stand Marielle und Pablo als kleines vergängliches Wölkchen vor dem Gesicht und drohte ständig damit, die
Weitere Kostenlose Bücher