Kalter Fels
Wasser in einem breiten Strahl. Nach einigen Minuten, während der sie sich den Kopf darüber zerbrach, was nun aus Ferdinand werden sollte, rief sie ihn:
»Komm, Ferdl. Du kannst kommen. Das Wasser ist eingelaufen.«
Ferdinand kam nackt, ohne die Decke und ohne sich seiner Nacktheit auch nur im Geringsten zu schämen. Auch schien er seine üble Ausdünstung nicht wahrzunehmen – im Gegensatz zu seiner Schwester, der gleich klar war, dass sie heute die Wanne mindestens zweimal würde füllen müssen: Vorwäsche und Hauptwaschgang.
Ferdinand stieg in die Wanne, mit dem rechten Fuß voraus, zog ihn aber gleich wieder zurück.
»Heiß!«, schrie er und sog pfeifend die Luft durch die Lippen. »Heiß!«
»Schrei nicht so«, schimpfte Hedwig. »Man muss es ja nicht bis ins Dorf hören, dass du da bist, oder?«
Sie fasste mit den Fingern ins Wasser und sagte: »Außerdem ist es gar nicht heiß. Stell dich nicht so an.«
Es dauerte geraume Zeit, bis Ferdinand in der Wanne war, erst sitzend, dann ganz langsam mit seinem ganzen stinkenden Körper eintauchend in das warme Wasser. Allerdings konnte er sich nicht ganz ausstrecken; dafür war er zu groß oder die Wanne zu kurz. So lag er mit angewinkelten Knien im Wasser.
Während er seinen Körper einweichte, setzte Hedwig Wasser für eine Kanne Tee auf. Bald konnte sie ihm einen Becher voll Pfefferminztee, den sie mit Honig gesüßt hatte, an die Wanne bringen.
»Trink das. Das wird dir guttun. Ich nehm an, dass du einiges hinter dir hast. Trink das, damit du nicht krank wirst.«
Sie ließ ihn eine weitere Viertelstunde im Wasser liegen, während der sie sich in der Küche zu schaffen machte.
Dann hieß sie ihn, das dreckig braune Wasser abzulassen und die Wanne mit der Brause grob zu reinigen. Danach konnte er sich wieder hinsetzen und frisches Wasser einlaufen lassen.
»Ich bin gleich bei dir. Dann bürsteln wir mal den ganzen Dreck runter von dir. Es wird höchste Zeit.«
* * *
Marielle hatte ihre Tage. Wenn sie ihre Tage hatte, bekam sie jedes Mal einen kleinen kugeligen Blähbauch und konnte sich schon dafür selbst nicht ausstehen. Sie hatte spät noch geduscht, stand jetzt im engen Bad vor dem Spiegel, während Pablo auf dem Bett lag und irgendetwas für die Uni büffelte. Sie fand sich wieder mal hässlich und wunderte sich, dass Pablo ihrem Körper etwas abgewinnen konnte. Wenn sie in solcher Stimmungslage war, fand sie ihre Frisur zu langweilig, ihr Gesicht zu blass, ihre Brüste zu klein, ihr Becken zu breit, ihre Knie zu knubbelig – und das wäre ihr an diesem Tag genauso ergangen wie schon oftmals zuvor.
Aber an diesem Abend drängte sich ein Gedanke immer wieder nach vorn, ließ ihr keinen Spielraum für selbstquälerisches Gegrüble. Der Gedanke und die Frage, wer einen Bergsteiger mit einem Stein erschlagen würde. Wer – und warum?
Immer wieder kreisten ihre Gedanken um den Fall Mannhardt. Wenn es sich bei Mannhardts Tod nicht um einen Unfall, sondern um einen Mord gehandelt hatte, dann musste der Täter diesen Mannhardt unheimlich gehasst haben. Nach allem, was sie zu der Sache erfahren hatte, war der Leichnam übelst zugerichtet gewesen – ein grauenvoller Anblick auch für die Leute von der Bergrettung, die Mannhardts sterbliche Überreste in einem schwarzen Kunststoffsack verstauen mussten.
Angenommen, es war ein Mord, dachte Marielle, dann musste der Täter den Mann mit einem Stein niedergeschlagen haben. Aber den zahlreichen Verletzungen nach war das Opfer ja nicht in sich zusammengesunken und liegen geblieben, es musste auch noch abgestürzt sein und sich dabei so ziemlich jeden Knochen im Leib gebrochen haben.
Zwei Möglichkeiten, dachte sie. Der Mörder hat zugeschlagen, Mannhardt ist dann abgestürzt und zig Meter tiefer liegen geblieben – worauf sich der Täter aus dem Staub gemacht hat.
Dann hat er aber nicht sicher sein können, dass sein Opfer wirklich tot ist.
Die andere Möglichkeit: Mannhardt war getroffen worden, war gestürzt, der Täter stieg hinab zu ihm und überzeugte sich vom Tod seines Opfers oder gab ihm den Rest. Was musste das dann für ein Mensch sein, der solch schockierende Bilder aushielt?
Sie erinnerte sich, dass Schwarzenbacher erzählt hatte, die Beine des Mannes seien abstrus verdreht vom Körper abgestanden.
»Wer macht so was?«, rief sie ins Zimmer hinaus, wo Pablo auf dem Bett lag und gegen seine Müdigkeit ankämpfte. »Sag mir: Was ist das für ein Mensch?«
Es dauerte, bis von
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