Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kalter Fels

Kalter Fels

Titel: Kalter Fels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Koenig
Vom Netzwerk:
umliegenden Bergen zu unterscheiden.
    Es war angenehm mild auf dem fast dreitausend Meter hohen Pirchkogel. Sie konnten auf die Daunenanoraks verzichten, waren nur in die leichten Softshell-Jacken geschlüpft und hatten sich auf ihren aufblasbaren Thermokissen in den Schnee gesetzt.
    »Du musst dir das Gesicht eincremen«, sagte Pablo und hielt ihr die Tube mit Sonnenschutzcreme hin. »Die Sonne ist heute total intensiv.«
    Im Osten erhob sich markant der Acherkogel. Dieser gletscherfreie Dreitausender stand schon lange auf Marielles und Pablos To-do-Liste: Es gab da eine Kante, alpine Kletterei, vierter Schwierigkeitsgrad – vielleicht in diesem Sommer.
    Im Westen standen die felsigen Kalkkögel wie ein Raubtiergebiss. Die Konturen zeichneten sich schwarz vor dem gleißend hellen Himmel ab. Am eindrucksvollsten freilich war der Ausblick nach Süden: Die hohen Gletscherberge wirkten jetzt, da vor lauter Schnee kein Fels und kein Wald mehr zu erkennen war, wie die Bergriesen im Himalaya. Der Schrankogel war fast dreitausendfünfhundert Meter hoch, das Zuckerhütl sogar noch höher. Und auch deren Trabanten waren kaum nennenswert niedriger. Doch all diese Stubaier Berge wirkten jetzt, in ihrem winterlichen Kostüm, wie Fünftausender oder Sechstausender, ja, vielleicht sogar Siebentausender. Einfach gigantisch! Und von atemberaubender Schönheit.
    Sie tranken Tee aus ihren Thermosflaschen und aßen ihre mitgebrachten Wurst- und Käsebrote. Fast eineinhalb Stunden verbrachten sie auf dem Pirchkogel. Dann wurde es höchste Zeit, sich an die Abfahrt zu machen. Es war nicht ungefährlich, zu lange oben zu bleiben. Unter der Sonneneinstrahlung erwärmten sich die Bergflanken, die Lawinengefahr nahm zu. Außerdem: Sie hatten ja auch noch etwas zu tun.
    Die wenigen anderen Skibergsteiger, die ähnlich lange am Gipfel geblieben waren, schauten Pablo und Marielle fassungslos nach, als sie sich an den im Winter ziemlich schwierigen Abstieg entlang des kurzen Grates machten. Anstatt die Ski anzuschnallen und in den Hang hineinzuschwingen, hatten sie sie zusammengeclipt und über die Schultern genommen.
    »Wir müssen aufpassen«, sagte Pablo.
    Aber das wusste Marielle auch so.
    »Was macht’s denn ihr da?«, rief ihnen einer nach. »Da geht’s owi!« Er zeigte auf die Zopfmuster der Abfahrtsspuren. »Da drüm seid’s foisch!«
    »Ist schon in Ordnung«, rief Pablo zurück. »Wir sind von der Tiroler Lawinenkommission. Wir kennen uns aus hier.«
    »Ja dann«, rief der Skitourengeher und machte sich für seine Abfahrt fertig.
    Marielle und Pablo balancierten über den schmalen Grat. Im Sommer eine ausgesetzte und nicht ganz ungefährliche Wegpassage. Jetzt aber überaus heikel. Sie versanken bis zu den Knien im Schnee, der Grat war nicht einmal einen Meter breit; mit den Skistöcken in einer Hand versuchten sie, die Balance besser zu halten. Unter dem Schnee waren vereiste Felsen. Die machten ihnen zusätzlich zu schaffen. Doch nach einigen Minuten waren sie erst einmal in Sicherheit. Dort, wo sich der Grat deutlich verbreiterte, konnten sie die Ski in den Schnee stecken, durchschnaufen, die unvermeidlich aufgekommene Angst aus den Gliedern schütteln.
    »Weißt du, was mir die ganze Zeit durch den Kopf gegangen ist, während ich da vor dir hergeturnt bin?«, fragte Pablo. »Ich habe mir gedacht, was passieren würde, wenn du mir auch nur einen kleinen Schubs geben würdest. Zum Beispiel dann, wenn ich grad nur auf einem Bein stehe …«
    Marielle schaute nach beiden Seiten hinab. Es war nicht so, dass jemand, der hier das Gleichgewicht verlor, in freiem Fall abstürzen würde. Das Gelände war nur steil, nicht senkrecht. Aber natürlich würde ein solchermaßen Stürzender mehrmals aufschlagen, sich mindestens schwer verletzen, und die Chance, dabei zu Tode zu kommen, war nicht gering.
    »Was aber nicht erklärt, wie die Untersuchungen dann auf Steinschlag kommen«, wandte Marielle ein. »Hier oben am Grat kann dich kein Stein treffen.«
    »Ich glaube, dass es sich überwiegend um Vermutungen handelt. Bei Mannhardt im Wetterstein scheint man davon ausgegangen zu sein, dass der Wegabschnitt zu unschwierig gewesen sei, als dass er ohne Einwirkung von oben abgestürzt wäre. Die schlimmen Kopfverletzungen hätte er sich genauso beim Sturz zuziehen können – aber wie gesagt, davon konnte man nicht ausgehen. Und hier? Da hast du schon recht, hier kann dich kein Stein treffen. Aber wenn wir ein Stück weitergehen, dann

Weitere Kostenlose Bücher