Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kalter Fels

Kalter Fels

Titel: Kalter Fels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Koenig
Vom Netzwerk:
Sonnenbrillen zu beschlagen.
    Sie waren nicht die einzigen Skibergsteiger, die jetzt, im späten April, an diesem Tiroler Paradeberg unterwegs waren. Mindestens fünfzig weitere Alpinisten befanden sich über oder unter ihnen im Aufstieg. Alle nutzten das gut prognostizierte Wetter, alle waren unterwegs zum 2.828 Meter hohen Pirchkogel, der an einem Tag wie diesem eine wirklich unvergleichliche Aussicht und dazu wahre Abfahrtsfreuden versprach.
    Pablo kannte den Aufstieg, kannte ihn vom Sommer her, da war er ihn vor vielen Jahren einmal mit seinen Eltern gegangen, und er kannte ihn als Skitour. »Dreimal hab ich die schon gemacht«, hatte er Marielle vorgeschwärmt. »Es braucht das richtige Wetter – wegen der Aussicht. Dann braucht es den richtigen Schnee – weil die Tour sonst im oberen Bereich lawinengefährlich ist. Sonst braucht es nichts.«
    Der Pirchkogel war für die beiden aber nicht nur wegen seiner schönen Aussicht und der Abfahrt über fast tausend Höhenmeter von Interesse. Dass sie ihn als Tourenziel gewählt hatten, hing damit zusammen, dass hier einer der tragischen Schauplätze war, die sie recherchieren wollten. Der Unglücksfall hatte sich im Sommer 1997 ereignet. Im Winter sah alles anders aus, und die Rückschlüsse, die sie ziehen konnten, würden nicht eindeutig sein. Aber sie hatten die Geduld verloren, hatten es aufgegeben, auf den Sommer zu warten, waren nun aufgebrochen, um endlich mit den Nachforschungen zu beginnen. Ein gewisser Hermann Holzer war hier ums Leben gekommen. Siebenundzwanzig Jahre alt, ein guter Bergsteiger, der mit Freunden und auch allein schon große Touren unternommen hatte. In den Westalpen, in den Dolomiten, in den Hohen Tauern, den Zillertalern und auch hier, in den Stubaiern. Der Pirchkogel war für diesen erfahrenen Skitourengeher nicht mehr als eine genüssliche Halbtagestour von Kühtai aus gewesen. Ein alpiner Spaziergang.
    Schwarzenbacher hatte einen Nachruf der Österreichischen Alpenvereinszeitung ausgegraben. Da war zu lesen, dass Hermann Holzer bei einer vermeintlich unschwierigen Bergtour »aufgrund eines tragischen Schicksals ums Leben gekommen ist«. Von seiner großen bergsteigerischen Erfahrung war die Rede, davon, dass er stets sehr bedächtig agiert habe bei den schwierigeren Unternehmungen und dass er, der in Bozen geborene und nach Schwaz im Inntal übergesiedelte junge Mann, »eine große Lücke im Kreis der Tiroler Bergfreunde« hinterlassen werde.
    Als sie das weitläufige Kühtaier Skigebiet unter sich ließen, sahen sie an den Parkplätzen immer mehr Autos ankommen: alles Pistenfahrer, die sich hier, bei einer Höhenlage der Talstation von zweitausend Metern, einen schneesicheren und sonnenreichen Tag machen wollten.
    Auf dem Schwarzmoos, wo im Sommer zwei kleine Hochgebirgsseen wie blaugraue Augen aus dem Hochmoor lugten, jetzt aber nicht zu sehen waren, querten sie nordwestwärts zum Gipfelaufbau des Pirchkogels hinüber. Ein gutes Stück links von ihnen verlief im Sommer der Normalweg zum Gipfel, ein an manchen Stellen etwas ausgesetzter Steig. Pablo zeigte hinüber zu dem Bereich, wo sich damals die Tragödie ereignet haben musste.
    »Wollen wir rübergehen?«, fragte Marielle. »Ich denke, es wäre gut, näher hinzukommen und ein Gefühl für die landschaftlichen Gegebenheiten zu bekommen.«
    Pablo gab ihr recht, schlug aber vor, erst direkt zum Gipfel aufzusteigen und dann, bei der Abfahrt, hinüberzuqueren zu den Felsen, die sich über dem Sommersteig aufbauten.
    Die Gipfelrast war phantastisch. Für Marielle wie für Pablo war es ein wunderschönes Gefühl, auf dieser Bergspitze wie auf einem Thron zu sitzen und bei wolkenlosem Himmel das Dreihundertsechzig-Grad-Panorama zu genießen.
    Jenseits des Inntals waren die Mieminger Berge und das gesamte Wetterstein in winterliches Weiß gehüllt. Bei genauerem Hinschauen war der Zugspitzgipfel zu erkennen – besser gesagt: das obendrauf gesetzte architektonische Durcheinander aus Wetterstation, Bergstation der Seilbahn, Münchner Haus und Aussichtsterrasse. Rechts davon die Arnspitzen, noch weiter rechts das lang hingestreckte Karwendelgebirge.
    Wo diese großen, gewaltigen Gebirgsgruppen durch tiefe Einschnitte voneinander getrennt waren, konnten Marielle und Pablo am Horizont sogar noch die kleineren Berge der Bayerischen Voralpen erkennen. Vor allem der rundliche Elefantenrücken der Benediktenwand, Gipfelhöhe tausendachthundert Meter, war auch auf die große Distanz gut von den

Weitere Kostenlose Bücher