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Kalter Fels

Kalter Fels

Titel: Kalter Fels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Koenig
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nicht die Einzigen, die früh im Jahr zum Bauernpredigtstuhl, zur Karlspitze, zum Christaturm oder zur Fleischbank wollten. Und doch war es mühsam, immer wieder wegzurutschen im Schnee oder einzusacken bis zu den Knöcheln.
    Doch die Sucht, die Klettersucht, ließ die beiden jede Unbill in Kauf nehmen. Zwar fluchten und schimpften sie abwechselnd über die »Schnapsidee, um diese Jahreszeit in den Kaiser zu müssen«, aber die »Wiessner-Rossi«, jene nach ihren Erstbegehern benannte Route an der Fleischbank-Südostwand, war wieder einmal derart verlockend, dass sie, trotz Fluchen, immer noch beste Laune hatten.
    »Ich steig die Schlüssel-Seillängen heute vor«, sagte Marielle während des Anstiegs keuchend zu Pablo. Und als würde sie Widerspruch erwarten, fügte sie hinzu: »Das haben wir so ausgemacht.«
    Sie waren die Route schon zweimal geklettert. Es war eine ihrer liebsten Klettereien, steil, ausgesetzt, schwierig, aber immer gut lösbar. Dazu kam das grandiose Erlebnis der außergewöhnlich bizarren Berglandschaft rundherum.
    Nach beinahe zwei Stunden erreichten sie den Sattel, das Ellmauer Tor. Nach rechts hätten sie nun gemütlich hinüberwandern können zur Hinteren Goinger Halt – und hätten von diesem unschwierig erreichbaren Aussichtsberg hineinsehen können in die imposanten Kletterwände von Christaturm, Fleischbank und Fleischbankpfeiler.
    Doch sie wollten nicht nur schauen. Sie wollten erleben! Die Luft unter den Sohlen spüren. Wollten spüren, wie das Adrenalin sie beflügelte. Wollten ihrer Sucht den Stoff geben, den sie brauchte.
    Am Ellmauer Tor angekommen, legten sie eine zwanzigminütige Pause ein: trockene T-Shirts anziehen, ein paar Bissen und ein paar Schlucke zur Stärkung, das Kletterzeug herrichten und nebenbei auch noch die Landschaft bewundern. Hier, im Sattel zwischen den Bergen, lag hart gepresst der Schnee, und er zog sich, gleißend im Sonnenlicht, nach beiden Seiten den Tälern zu. Hier hinunter Richtung Gaudeamushütte, dort Richtung Stripsenjoch und Griesener Alm.
    Es war ein verdammt gutes Gefühl, jetzt wieder in den Bergen zu sein. Diese wunderbare Luft zu atmen, diese beeindruckenden Nah- und Fernblicke genießen zu können.
    »Du gehst also die schwierigen Seillängen vor?«, fragte Pablo noch einmal. Er wollte sich nur vergewissern – nicht etwa, dass er Zweifel gehabt hätte an Marielles Kletterfähigkeiten, aber er wusste ja auch, dass sie ihre große Krise, in der sie über ein Jahr lang gefangen gewesen war, gerade erst richtig überwunden hatte. Erst um Silvester herum hatte sie wieder mit dem Klettern begonnen, und da war sie das meiste noch am sicheren Seil nachgestiegen. Voraussteigen bedeutete, das extreme Erlebnis noch zu steigern – um den Preis größeren Risikos. Wenn der Voraussteigende stürzte, fiele er eben nicht in ein straffes Seil, sondern flöge, je nach Hakenabstand, einige Meter durch die Luft. Und da konnte man sich beim Aufprall am Fels gehörige Verletzungen zuziehen.
    »Ich bin fit«, gab Marielle zur Antwort. »Und ich freu mich riesig auf die Tour.«
    Sie verglichen die Anstiegsskizze, die sie aus einem Kletterführer herauskopiert hatten, noch einmal mit der realen Wand. Vor ihnen lag ein kompaktes Felsbollwerk, plattig, senkrecht, zweihundertsiebzig Meter hoch, in elf Seillängen zu bewältigen. Schwierigkeitsgrad mindestens V+; wenn man alles frei kletterte, also sich zur Fortbewegung an keinen Haken hinaufziehen und auf keine Haken steigen musste, sogar VI oder ein bisschen drüber.
    Am meisten Sorgen machte ihnen aber nicht das schwierige Klettergelände – da lag längst kein Schnee mehr in der Wand, viel zu steil war hier der Fels. Aber die Zustiegsquerung war nicht ohne. Eine spannende Angelegenheit, wenn man nur die engen Kletterschuhe mit ihren absolut profillosen Gummisohlen anhatte …
    Pablo band sich ein »Wimmerl« um die Hüften, verstaute zwei Dosen Isostar, zwei Müsliriegel und ein Handy für alle Fälle – vor allem Notfälle – darin, und dann ging es los.
    * * *
     
    Schwarzenbacher und Manfred Ipflinger hatten sich bei McDonald’s nahe der Autobahnausfahrt Kufstein-Nord verabredet. Sie tranken einen Cappuccino und machten sich dabei etwas besser miteinander bekannt. Aber Ipflinger wollte nicht bleiben – was Schwarzenbacher ganz recht war.
    »Ich wohne zwar mit meiner Familie in Kufstein, aber meine Frau stammt aus der Gegend von Niederndorf«, sagte der junge Polizist. Er war höchstens zwei- oder

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