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Kalter Fels

Kalter Fels

Titel: Kalter Fels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Koenig
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schwierigen Querganges war sie nervös. Sie begann, an ihren Kräften zu zweifeln, die neben guter Technik natürlich auch unabdingbar waren, wenn man in der Senkrechten bestehen wollte. Und als sie mitten im Quergang war – Schwierigkeitsgrad VI+ und sehr viel Bewegungsgefühl erfordernd –, da ging ihr immer wieder durch den Kopf, wie es sein würde, wenn sie jetzt plötzlich den Halt verlieren würde …
    Zittrig und mit viel größerer Kraftanstrengung, als eigentlich nötig gewesen wäre, erreichte sie den Standplatz am Ende dieser Seillänge. Und während Pablo relativ locker nachgeklettert kam, machte Marielle sich Gedanken, woran es lag, dass sie an diesem Tag nicht zur gewohnten Form fand.
    Natürlich kannte sie das: Manchmal genügte es, an einer besonders schwierigen Kletterstelle sozusagen mit dem falschen Fuß zu starten, und schon geriet man in einer Seillänge, die für gute Kletterer sonst durchaus genussvoll sein konnte, völlig aus dem Rhythmus. Da war dann plötzlich jede Eleganz dahin, es ging nur noch mit Kampf und Krampf. Von »Natural High« konnte dann auch nicht mehr die Rede sein. Was man fühlte, war Angst, Stress und vielleicht noch Wut auf sich selbst.
    Ich muss mich besser konzentrieren, dachte sie. Und dann war auch schon Pablo bei ihr angekommen, gab ihr einen anerkennenden Klaps auf den Helm und sagte: »So was von geil heute, oder?«
    Sie gab nicht zu, dass sie es heute nicht so geil fand. Sie war immer noch überzeugt davon, dass es sich in den nächsten Seillängen geben würde. Aber es war ein Irrtum.
    Die nächsten beiden Seillängen, eine von zwanzig und eine von acht Metern Länge, beide nicht allzu schwierig, stieg Pablo vor. Dann war Marielle wieder an der Reihe. Genau das Gelände, das sie eigentlich liebte: kompakter, plattiger Fels, senkrecht bis leicht überhängend. Da war ein großes Bewegungsgeschick vonnöten, filigranes Klettern, das bisweilen die Körperbeherrschung einer Balletttänzerin erforderte, kurzum: Wenn alles gut lief, eine traumhafte Seillänge.
    Aber da war er wieder, der falsche Fuß. Keine der Kletterstellen löste sich so auf, wie sie das gerne gehabt hätte. Nie begannen ihre Bewegungsabläufe zu fließen. Sie kämpfte. Und wenngleich diese Seillänge mit zahlreichen Haken gut abgesichert war, hatte sie doch einen Mordsgräuel davor, ins Seil zu stürzen.
    In den Klettergärten machte ihr das gar nichts aus. Da gehörte es dazu, immer wieder ins Seil zu fallen, wenn man bis an seine äußersten Grenzen ging. Aber hier? Umgeben von einer zerklüfteten Felsszenerie, die schon vom Ellmauer Tor aus gehörig Eindruck auf jeden Betrachter machen musste, und geradezu angesogen von einer ungeheuren Tiefe, in die man dann hineinzustürzen glaubte: das Kar, bestehend aus dem Schutt und Geröll der Jahrmillionen, felsdurchsetzt, von Schneefeldern überdeckt.
    Es war eine Sache, im Klettergarten nach einem Sturz gleich wieder auf den Boden herabgelassen zu werden, wo sich die Nerven schnell beruhigen konnten – und es war eine ganz andere Sache, hundert und mehr Meter oberhalb der Wanderregion zu stürzen, sich dabei vielleicht zu verletzen und zugleich zu wissen, dass man noch ein schwieriges Stück Wand vor sich hatte oder eben einen genauso schwierigen und oft heiklen Rückzug, raus aus der Senkrechten, hinunter ins Gehgelände.
    Marielle schaffte es, schaffte es irgendwie, meisterte auch den sogenannten Rossi-Überhang, wobei sich aber ihre Finger immer mehr verkrampften und sie das Gefühl bekam, ihre Kraft würde nicht reichen bis zum Ende der Tour.
    Als auch Pablo am Standplatz angekommen war, gab sie endlich ihre Schwäche zu. »Irgendwie läuft’s heut nicht gut«, sagte sie. »Ich fühle mich nicht richtig wohl in meiner Haut. Vielleicht übernimmst du die schwierigen Seillängen, die noch kommen.«
    Pablo nickte. Ihm war nicht entgangen, wie schwer sich Marielle in den hinter ihnen liegenden Klettermetern getan hatte. Was ihn aber nicht weiter verwunderte. Von sich selbst wusste er: Man konnte in Topform sein, schwierigste Sachen geklettert haben, und plötzlich hatte man ein Tief. Da passte dann irgendwas in einem selbst nicht richtig zusammen. Aber das gab sich meist wieder von einem Tag auf den anderen.
    »No problemo«, sagte er grinsend. »Lass uns auf dem Band rüberqueren bis zum nächsten Standplatz, wo es dann wieder ernst wird. Und bevor wir weiterklettern, essen wir unsere Riegel und trinken die Dosen leer. Hab sie ja nicht

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