Kalter Fels
mitgenommen, um sie nur durch die Wand zu schleppen.«
Vom Christaturm hallten die Kommandos einer anderen Seilschaft. Am Ellmauer Tor kam gerade eine ganze Wandergruppe an. Es war kurz nach Mittag, die Sonne stand hoch, und in der Wand war es angenehm warm.
Pablo und Marielle sicherten sich am nächsten Standhaken, stärkten sich mit ihrem Proviant und bewunderten die schöne, die schrecklich-schöne Landschaft. Sie sahen sich an – und beide wussten, ohne Worte darüber verlieren zu müssen, dass es ein Privileg war, an dieser exponierten Stelle sein zu dürfen und die Welt wie aus einem Adlernest heraus betrachten zu können.
Eine zerklüftete Felswildnis, schräg drüben die Spitze des schwierigen Bauernpredigtstuhls, nach der anderen Seite die zahllosen Pfeiler und Risse des Predigtstuhls. Hier, rund ums Ellmauer Tor, war Klettergeschichte geschrieben worden – es gab noch zig Routen, die auf Marielle und Pablo warteten.
Die Seillänge oberhalb des fußwegbreiten Bandes, wo sie gerastet hatten, bot nur vierten Schwierigkeitsgrad. Marielle entschied, hier noch einmal vorzusteigen, bevor noch erneut zwei schwere Längen zu bewältigen waren. Ein Felsgelände, das ihr keine Probleme bereitete. Normalerweise.
Heute war für sie alles anders als sonst.
Sie begann die Vierer-Seillänge achtsam und ruhig. Schon wenige Meter über dem Standplatz stellte sich aber wieder die Unbehaglichkeit von vorhin ein; dass jetzt weniger Haken steckten, spielte ihrer Psyche noch einen weiteren Streich.
Die Schwierigkeiten waren für sie eigentlich nicht der Rede wert. An guten Tagen hätte sie das seilfrei und absolut ungesichert klettern können. Und es wäre ihr nichts passiert.
Doch heute?
Etwa fünfundzwanzig Meter über dem Standplatz – sie spreizte eine kleine Verschneidung aus, drückte sich mit der linken Hand gerade leicht nach oben – streifte ein winziger Stein, der von irgendwo oben heruntergeschossen kam, ihre Schulter. An guten Tagen hätte sie das weggesteckt. An diesem Tag aber war ihr inneres und äußeres Gleichgewicht sehr labil. Sie erschrak so sehr, dass ihr rechter Fuß von einem etwas glatten Tritt rutschte. Sie versuchte noch, sich mit der rechten Hand zu halten, denn die linke war ja in einem Stützgriff und daher nicht in der Lage, einen Sturz abzufangen. Aber auch das misslang. Alles, was jetzt geschah, ereignete sich wohl in drei oder vier Sekunden. Ihr aber kam es länger vor, wie eine Zeitlupensequenz in einem Film – und sie war darin die Hauptdarstellerin.
Sie sah ihren Fuß vom Tritt rutschen, langsam, sah die Finger ihrer rechten Hand, wie sie sich an den Griff, eine kleine Leiste, klammerten … wie sie sich öffneten, öffneten, öffneten … und plötzlich nach hinten in die Luft gezogen wurden. Sie sah noch einmal den halben Quadratmeter Fels, den sie unmittelbar vor Augen hatte, sah jedes Detail der Gesteinsstruktur, sah die Farben des Steins, sah die Rauigkeiten, sah – welch ein Wunder in dieser senkrechten Wildnis – in einer winzigen Felsspalte ein weiß blühendes Steingartenpflänzchen, nicht größer als ein Zweieurostück.
Und dann fühlte sie sich stürzen.
Und sie sah sich stürzen – gerade so, als wäre ihre Seele außerhalb ihres Körpers, als könnte sie dieser Marielle zuschauen bei dem, was nun passierte.
* * *
»Ich hatte die Angelegenheit fast schon vergessen«, sagte Ipflinger. »Und dann rief dieser Kröninger an. Hat sich irgendwie durchgefragt, wer alles mit den Ermittlungen zu tun gehabt hat. Und da ist er auf mich gestoßen.«
Er machte eine Pause in seinen Ausführungen. Schwarzenbacher kam es vor, als würde er jedes Detail, das er preiszugeben gedachte, vorher noch einmal überdenken.
»Ich war ziemlich am Anfang meiner Laufbahn. Du musst das bitte verstehen. Und eigentlich bin ich es ja noch immer. Du hast meine Frau kennengelernt. Es ist heute gar nicht leicht, eine Familie zu ernähren. In unserem Beruf verdient man ja nicht die Welt … aber das weißt du ja alles. Damals wollten wir bald Kinder haben. Zwei.«
Er zögerte, sprach dann aber weiter.
»Ist dann anders gekommen … wir können keine haben … Wie dem auch sei: Da stellt man sich nicht quer, wenn man merkt, dass nichts dabei herauskäme als nur Ärger für einen selbst.«
Als Ipflinger von seiner Frau und vom Kinderwunsch sprach, reagierte Schwarzenbacher innerlich eifersüchtig.
Der soll nicht wegen der Kinder jammern, die er nicht haben kann, dachte er. Hat eine
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