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Kalter Fels

Kalter Fels

Titel: Kalter Fels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Koenig
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Frau. Tolle Frau.
    »Nein, ich verstehe noch gar nichts«, sagte er trocken. »Das musst du mir schon erklären.«
    Ipflinger sah ihn lange an, als würde er versuchen, ein Rätsel, das in Schwarzenbachers Gesicht geschrieben stand, zu lösen.
    Die blühenden Obstbäume vorm Fenster schienen immer mehr zu leuchten. Am blauen Himmel zogen nur einzelne kleine Wolken.
    Schwarzenbachers Verärgerung verflog so schnell, wie sie gekommen war. Er beobachtete die Wolken. Weiß wie Wattebäuschchen, dachte er.
    »Als wir den Unfallort inspiziert haben, kam eine Fremdeinwirkung zuerst einmal überhaupt nicht in Frage. Der Weg hinauf zur Pflaum-Hütte zieht in vielen Serpentinen unter den Ostabstürzen vom Predigtstuhl und der Vorderen Goinger Halt durch. Das ist also alles ein Gelände, wo dir schon mal ein Stein auf den Kopf donnern kann. Zugegeben, es passierte zum Glück nicht oft, dass es jemanden derart erwischt. Aber die Chancen, etwas abzubekommen, stehen so schlecht auch wieder nicht.«
    Schwarzenbacher kaute auf dem letzten Stück Speck herum, das er sich vom Jausenbrett genommen hatte.
    »Dieser Dahmann war kein Einzelgänger. Er kam aus Deutschland, irgendwo aus der Gegend von Magdeburg. Hat mit seiner Familie Urlaub gemacht, in St. Johann, wenn ich mich richtig erinnere. Es muss ein trüber Tag gewesen sein, zeitweilig leichter Regen. Da wollten seine Frau und sein damals dreizehn- oder vierzehnjähriger Sohn lieber in der Ferienwohnung bleiben. Dahmann aber wollte den Tag nutzen. Ist zur Griesener Alm gefahren, hat dort das Auto abgestellt, ist zur Fritz-Pflaum-Hütte gewandert – vom Parkplatz zur Hütte sind es ungefähr zwei Stunden. Nun musst du wissen, dass diese Hütte unbewirtschaftet ist; da gehen in der Regel nur Leute hoch, die zum Klettern wollen oder die einfach die Einsamkeit suchen.«
    Als einsam galt auch das Tal, wo Karl Mannhardt 1974 ums Leben gekommen ist, dachte Schwarzenbacher. Wieder eine Parallele: einsames Tal, Bergsteiger allein unterwegs, Tod durch Steinschlag.
    »Im Nachhinein bin ich der Meinung«, fuhr Ipflinger fort, »dass Dahmann noch leben würde, wenn seine Familie mitgegangen wäre. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ihn jemand ermordet hat. Und diesen Verdacht hatte ich auch damals schon – es ist jetzt bald acht Jahre her.«
    »Warum hast du mit niemandem darüber gesprochen?«
    »Habe ich!«, gab Ipflinger zurück. »Habe ich! Und mehr als das. Ich bin in meiner Freizeit noch mehrmals zur Griesener Alm gefahren und hinaufgestiegen bis zum Unglücksort. Diese Geschichte hatte irgendwas in mir entfacht, und sie hat mir einfach keine Ruhe mehr gelassen. Schon zwei Tage nachdem der Tote gefunden und geborgen worden war – niemand hatte Zweifel an der Todesursache –, war ich wieder am Unglücksort. Wenn ich sage, niemand hatte Zweifel, dann stimmt das nicht: Ich hatte Zweifel. Früher bin ich selbst viel geklettert. Da bleibt es nicht aus, dass man Erfahrungen mit Steinschlag macht. In meinem Fall ist das immer glimpflich verlaufen. Zum Glück. Worauf ich aber hinauswill: Ich weiß, wie ein Stein da herunterkommt.«
    Ipflinger trank einen Schluck von seinem Bier, ehe er weitersprach.
    »Steine fallen auch im Gebirge nicht vom Himmel. Es geschieht wohl sehr selten, dass ein Stein sich hoch droben löst, in freiem Fall runtersaust und jemandem dann den Hinterkopf einschlägt, wie das bei Dahmann der Fall war. Kennst du dich in den Bergen aus? … Pardon …«
    Er wurde fast ein bisschen rot, als er seinen Fauxpas bemerkte. Wie hätte sich der Rollstuhlfahrer Paul Schwarzenbacher im Gebirge auskennen sollen?
    »Kein bisschen. Was allerdings nicht daran liegt, dass ich im Rollwägelchen rumfahre«, sagte Schwarzenbacher. »Das war ja nicht immer so. Früher hab ich laufen können. Was ich aber nicht allzu gern getan habe. Schon gar nicht bergauf. Da konnte ich mir immer Besseres vorstellen. Aber keine Frage: Wenn ich wieder gehen könnte, ich würde nicht nur eine Wallfahrt von Innsbruck nach Mariastein machen, ich würde, und das wahrscheinlich sogar mit Wonne, auf die Serles steigen oder meinetwegen auf die Hohe Munde.«
    Ipflinger nickte. Und schwieg, Schwarzenbacher nahm an, dass er darüber nachdachte, wie er sich fühlen würde, wenn er plötzlich im Rollstuhl säße.
    Es kostete ihn offenbar Überwindung, das Gespräch wiederaufzunehmen.
    »Jedenfalls«, begann er, »kommen die meisten Steine nicht völlig überraschend runter. Meistens gibt es eine Vorwarnung. Was ja

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