Kalter Fels
Facebook nichts Interessantes, in ihrem E-Mail-Account gab es außer einigen Werbemails nur Smalltalk von Mitstudentinnen und Mitstudenten. Sie schaute sich die News auf der Startseite des Österreichischen Alpenvereins an und scrollte durch den Blog des Filmfests St. Anton. Das tat sie in schöner Regelmäßigkeit; sie mochte die Filmausschnitte aus den vergangenen Veranstaltungen: Bouldern, Klettern, Ski und Snowboard extrem.
Heuer will ich wieder mal hin, dachte sie. Die ganze Zeit beim Filmfest sein. Tagsüber klettern oder mountainbiken, abends ins Kino.
Aber wahrscheinlich kommt doch wieder etwas dazwischen.
Sie gab bei Google das Stichwort »Steinschlag« ein. Auf den ersten Seiten ging es fast nur um Steinschlagschäden beziehungsweise Reparaturen am Auto und um steinschlaggefährdete Straßen.
Dann aber stieß sie auf einen Artikel des Kurier:
»Frauenmörder von Scharnitz … Tatwaffe Flussstein … Marianne G. wurde mit einem Stein erschlagen … Täter ist flüchtig … bis jetzt fehlt jede Spur …«
Auf der Flucht, dachte sie. Er ist auf der Flucht. Einer, der mit Steinen zuschlägt. Der ist sehr verbunden mit der Natur, dachte sie. So einer versteckt sich nicht in einer Stadt. So einer verkriecht sich in der Natur, in der Wildnis. Irgendwo in den Bergen, in einem Gelände, wo nie jemand hinkommt.
In einer Höhle vielleicht. Oder in einem aus Zweigen und Reisig und Laub selbst gebauten Verschlag.
Obwohl es Nacht war, konnte sie vom Nordfenster der Wohnung aus das Gebirge erkennen, die Silhouette der Karwendelkette, die über Innsbruck aufragte. Die Umrisse und die Lichter der Seilbahnstationen Karwendelgrube und Hafelekar. Sie wusste, dass dies nur die südlichsten Ausläufer des riesigen Gebirges waren, das sich, zergliedert von mehreren tief eingeschnittenen Bergtälern, viele Kilometer nach Westen wie nach Osten erstreckte. Das Karwendel war beliebt bei Wanderern und Bergsteigern. Und dennoch war der größte Teil von diesem Gebirge so wild, so ursprünglich geblieben, dass sich einer, der sich verstecken wollte, dort unsichtbar machen konnte.
Da draußen ist er. Irgendwo da draußen im Gebirge.
Vielleicht glaubt er sogar, unsichtbar zu sein.
Ich glaube es nicht, dachte sie.
Unsichtbar ist er nicht.
11
»Du bleibst hinter der Scheibe«, sagte Hosp, »und rührst dich bitte nicht von der Stelle. Niemand erfährt, dass du heute hier bist – versprichst du mir das?«
Schwarzenbacher nickte. »Versprech ich dir. Und jetzt lass mich nicht länger warten. Du hast mir die Zähne ja schon verdammt lang gemacht.«
»Eins noch«, sagte Hosp, »eventuell kommt noch ein gewisser Dr. Sinic zu dir in die Kabine. Ich hatte ihn gebeten, dabei zu sein, doch er wusste noch nicht, ob es bei ihm zeitlich klappen würde.«
Schon war er draußen aus der kleinen Beobachtungskabine. Und wenige Augenblicke später sah Schwarzenbacher ihn den Vernehmungsraum betreten.
Hosp legte sich Papier und Kugelschreiber auf dem Tisch in der Mitte des Raumes zurecht, setzte sich auf einen der Stühle, checkte das Aufnahmemikro, nahm das Haustelefon und ließ Hedwig Senkhofer zu sich bringen.
Schwarzenbacher, der hinter dem verspiegelten Fenster saß, sah eine Frau um die fünfzig hereinkommen. Der Beamte, der sie brachte, verließ den Raum sofort wieder und zog die Tür hinter sich zu.
Die Frau trug ein geblümtes Kleid, das ihr bis über die Knie reichte und in der Taille ein wenig zu eng wurde. Darüber trug sie eine grau-beige Weste, die sie nicht zugeknöpft hatte.
Was Schwarzenbacher an Hedwig Senkhofer sofort auffiel, war ihre fahle Ungeschminktheit. Sie hatte das Haar straff nach hinten gesteckt, kein Lidschatten, keine Wimperntusche zierte ihre Augen, kein Lippenstift rötete ihren Mund. Sie wirkte wie eine Frau, die nach acht Jahren Haft dem Richter vorgeführt wird, auf dass dieser prüfe, ob sie vorzeitig entlassen werden könne oder ob sie auch die restlichen Jahre noch abzusitzen habe.
Eine verhärmte, gebrochene Frau, dachte Schwarzenbacher.
Hosp bat sie, sich auf den freien Stuhl zu setzen. Er machte sie darauf aufmerksam, dass er das Gespräch auf Tonband mitschneiden würde. Sie nickte nur.
Nachdem er ihren Namen, ihre Adresse, das Datum, die Uhrzeit und seinen Namen auf Band gesprochen hatte, wies er sie – nochmals – darauf hin, dass sie Anrecht auf einen Anwalt hätte, und fragte, ob sie davon Gebrauch machen wollte. Doch Hedwig Senkhofer schüttelte erst nur den Kopf, besann sich aber
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