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Kalter Fels

Kalter Fels

Titel: Kalter Fels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Koenig
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darauf, dass ein Tonband keine Filmkamera war, und sagte laut und deutlich: »Nein.«
    Und dann fügte sie hinzu: »Keinen Anwalt. Ich will nur mit Ihnen sprechen.«
     
    Ihre Stimme war fest. Hosp merkte das gleich. Die Frau war heute in einer ganz anderen Verfassung als bei der ersten Begegnung in Scharnitz. Sie schien sich innerlich gesammelt zu haben. Nun gab es zwei Möglichkeiten: dass sie sich Ausflüchte zurechtgelegt hatte bis ins kleinste Detail – oder dass sie sich durchgerungen hatte, reinen Tisch zu machen. Hosp hatte das in seiner langen Laufbahn als Kripobeamter immer wieder erlebt: Schon der Entschluss, sich zu offenbaren, ließ oft ein scheinbar erdrückendes Gewicht von den Schultern eines Befragten rutschen.
    »Fangen wir mit dem Tag an, an dem Marianne Grasberger ermordet worden ist. Ich möchte wissen, ob Ihr Bruder, Ferdinand Senkhofer, an diesem Tag bei Ihnen im Haus war.«
    »Das ist nicht wichtig«, sagte Hedwig Senkhofer.
    Hosp sah sie verdattert an.
    »Das ist nicht wichtig?«, fragte er.
    »Nein«, sagte sie. »Die Geschichte hat einen Anfang. Und der war vor langer Zeit.«
    »Dann fangen Sie eben mit diesem Anfang an. Mich interessiert alles, was Sie zu erzählen haben.«
    Die Senkhofer sah Hosp lange schweigend an. Dann begann sie mit ihrer Geschichte. Und sie schien sich dabei zu bemühen, gut verständlich schriftdeutsch zu sprechen.
    »Ferdinand ist mein jüngerer Bruder. Zwei Jahre jünger. Er ist geistig zurückgeblieben. War nie in der Lage, einem Schulunterricht zu folgen. Die ersten Jahre hat man ihn an der Schule so durchgeschleift. Aber dann, ab der vierten Klasse, war er denen wohl nur mehr ein Klotz am Bein. Sie haben meiner Mutter empfohlen – mein Vater war ja bereits gestorben, und sie lebte auch nur noch ein paar Jahre –, ihn in ein Heim zu tun. Aber das wollte sie nicht, das wollten wir alle nicht. Ferdinand störte ja nicht in unserem Frauenhaushalt und der kleinen Landwirtschaft. Im Gegenteil. Er machte sich überall ein bisschen nützlich, einfache Arbeiten konnte man ihm gut übertragen. Und er war immer pflegeleicht. Ein freundlicher Mensch, nicht aggressiv, nicht gewalttätig …«
    »Da möchte ich aber doch Zweifel anmelden«, unterbrach sie Hosp sarkastisch.
    Die Senkhofer sah ihn mit finsterem Blick an. »Sie haben keine Ahnung. Überhaupt keine«, sagte sie. »Ferdinand ist ein sensibler Mensch. Zu sensibel. Ich glaube, er weiß sehr genau, dass er anders ist als die anderen. Und deshalb ist er sich immer sehr allein vorgekommen auf der Welt. Er hat sich an unsere Mutter und mich geklammert. Später nur noch an mich. Ich war alles für ihn. Ich bin es bis heute.«
    Sie holte ein Papiertaschentusch aus einer ihrer Westentaschen, schnäuzte sich, sprach dann weiter:
    »Er hat ein Verhältnis völliger Abhängigkeit zu mir entwickelt. Heute weiß ich, dass es auch meine Schuld ist. Ich hätte etwas tun müssen, dass er zumindest im Rahmen seiner Möglichkeiten eine eigenständige Person wird. Aber ich war jung. Wir waren jung. Ich musste ja für ihn da sein. Was hätte ich machen sollen? Ich war alles, was er hatte. Erst später habe ich begriffen, dass er in gleichem Maß für mich da war. Er hat immer auf mich aufgepasst. Lange war mir das nicht bewusst. Aber dann geschah etwas, was unser Leben zerstört hat. Meines genauso wie seines. Ich war jung …«
    »Das haben Sie schon gesagt«, hätte Hosp am liebsten eingeworfen. Es kostete ihn Mühe, seine Ungeduld im Zaum zu halten. Aber er wusste nur zu gut, wie leicht die Bereitschaft, alles zu erzählen, ins Stocken geraten konnte – und wie schwierig es dann war, den Monolog wieder in Gang zu bringen.
    »Ich hab mir in all den Jahren viele Gedanken gemacht, warum Ferdinand so fürchterlich grausam reagiert hat. Ob es Eifersucht war oder ob er glaubte, dass ich bedroht gewesen bin? Ich glaube, es war eine Mischung aus beidem, was ihn veranlasst hat, Karl zu töten. Dabei hat Karl ihm nichts und mir nichts getan. Gar nichts. Aber das hat Ferdinand nicht verstanden …«
    Es war auch für Hosp nicht zu verstehen. Aber es dauerte nicht mehr lange, bis die Sache klar und offensichtlich war.
    »1973 habe ich Karl zum ersten Mal getroffen. Es war Zufall. Er war als Bergsteiger im Karwendelgebirge unterwegs. Und ich bin von unserer kleinen Alm nach Scharnitz rausgegangen, um einige Besorgungen zu machen. Da sind wir uns wirklich über den Weg gelaufen. Und wir sind dann eine Stunde miteinander gegangen. Er war

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