Kalter Fels
Zeug beduseln.
Manchmal kam er ihr wirklich komisch vor.
Direkt vom Laden fuhr Steffen Gensner nach Thalkirchen in die Kletterhalle. Er traf sich mit einem etwa gleichaltrigen Mann, den er hier vor einiger Zeit kennengelernt hatte. Regelmäßig powerten sie sich gemeinsam in der Halle aus, kletterten Route um Route, bis ihnen die Arme lang wurden, die Kräfte schwanden. Erst dann war Gensner zufrieden.
»Was machst eigentlich morgen?«, fragte ihn sein Kletterpartner. »Morgen ist Sonntag, da hätte ich Zeit. Könnten ja was am Buchstein machen.«
»Geht nicht«, sagte Gensner. »Bin zum Berglauftraining verabredet. Mit zwei Kumpels von Wallgau auf den Wank. Neunhundert Höhenmeter und ziemlich viel Strecke.«
»Das wär nichts für mich.«
»Ich brauch das«, sagte Gensner. »Es ist das beste Gefühl, sich so zu verausgaben, dass man fast kotzen muss. Und dass einem der Kopf vorkommt, als wäre innen alles herausgeschält. Keine Gedanken mehr, keine Erinnerungen, nichts. Verstehst du?«
»Nicht so ganz. Aber ich kann eh dem Laufen nicht allzu viel abgewinnen. Mir langt das Bergsteigen und das Klettern. Aber …«, fügte er an, »wir könnten ja nächste Woche mal telefonieren und schauen, ob irgendwann in nächster Zeit etwas geht. Irgendwas in den Bayerischen Voralpen oder im Oberreintal oder vielleicht im Kaiser.«
»Den Kaiser mag ich nicht«, sagte Gensner. »Ich melde mich.«
Er gab seinem Kletterpartner noch einen Klaps auf die Schulter, sagte Ciao und war auch schon weg.
* * *
Für Schwarzenbacher war es ein Abend zwischen Aufgekratztheit und Depression. Dass die Verletzung von Marielle letztlich nur geringfügig war, stimmte ihn froh. Er mochte das Mädchen ganz einfach. Er mochte sie so, wie ein großer Bruder es vielleicht tun würde. Diese Empfindungen waren ganz anders als die für Ipflingers Frau. Die mochte er als Mann, fürsorglich und begehrlich zugleich.
Er überlegte, wie lange er schon allein lebte. Ungefähr zweieinhalb Jahre.
Genau genommen zwei Jahre und sieben Monate, dachte er. Damals hatte ihn Helene, mit der er zwölf Jahre zusammen gewesen war, verlassen. Sie hatte es nicht mehr ausgehalten, nicht nur mit ihm, sondern auch mit seiner Krankheit liiert zu sein.
Er hatte Verständnis für ihren Entschluss. Einerseits. Denn die Krankheit und sein Leben im Rollstuhl hatten ihn mehr und mehr zermürbt, depressiv und aggressiv gemacht, und in der einen oder anderen zurückgezogenen Stunde war ihm klar gewesen, wie unerquicklich ein Zusammenleben mit ihm sein musste.
Andererseits hatte das Verlassenwerden seine Verzweiflung und seine Wut noch gesteigert. Durch die Erkrankung hatte er sich nicht nur behindert, sondern geradezu entmannt gefühlt. Dass er dann allein zurückblieb, setzte ein weiteres Ausrufezeichen ans Ende des Satzes, der sich in seinem Kopf, seiner Seele und seinen Genitalien tief eingebrannt hatte: »Ich bin kein Mann mehr!«
Schwarzenbacher hörte eine CD von Trovesi und Coscia. Sie war der ideale Soundtrack zu seiner Stimmungslage: schwermütig, aber auch schön. Wunderschön. Und bisweilen auch voller verspielter Sinnlichkeit. Und er überlegte, was er tun müsste, um wieder in einer Zweierbeziehung leben zu können. Was er tun müsste, um für eine Frau attraktiv zu sein. Die Musik gab keine Antwort darauf. Oder doch?
Schwarzenbacher beschloss, Anfang der nächsten Woche einen Termin beim Friseur zu machen. Und außerdem vielleicht mal einen Abstecher in einen Bekleidungsladen. Vielleicht würde Pablo mitgehen und ihm behilflich sein. Ein paar neue Jeans, ein oder zwei Pullis, ein paar Hemden und vielleicht ein Sakko – ich könnte das schon gebrauchen, dachte er.
Und die Wohnung muss ich mal wieder aufräumen, dachte er weiter. Er wusste, dass eine solche Tätigkeit für ihn alles andere als einfach war. Aber er schreckte, zumindest im Augenblick, nicht davor zurück.
Die Begegnung mit Karin Ipflinger und der Bericht ihres Mannes hatten ihm ja nicht nur Selbstzweifel verschafft, sondern auch einen Elan, wie er ihn lange nicht mehr verspürt hatte. Und er war sich nicht einmal ganz sicher, was ihm mehr Auftrieb gab: die Ausstrahlung der Frau oder der Fortschritt bei den Untersuchungen der Steinschlag-Morde.
Es gab viel zu tun, weit mehr, als sich nur um Herrenbekleidung zu kümmern. Marielle und Pablo sollten so bald als möglich ins Kaisergebirge geschickt werden und sich den Tatort genau ansehen, alles fotografieren und aus ihrer
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