Kalter Fels
Turm einer alten Kirche aufragte, und versuchte, sich nicht darüber zu ärgern, was die Menschheit aus ihrer Welt machte.
* * *
Am Samstag um drei viertel sechs sperrte Steffen Gensner seinen Bergsportladen im Münchner Stadtteil Berg am Laim zu. Um vier hatten er und seine Mitarbeiterin Sonja die letzten Kunden verabschiedet, dann war Sonja gegangen; er war noch geblieben, hatte die Tagesabrechnung gemacht und noch ein Telefonat mit einem Kletterkumpel geführt.
Gensner war erst einundzwanzig, aber schon Inhaber dieses kleinen, jedoch sehr gefragten Ladens für Ausrüstung zum Wandern, Klettern, Bergsteigen. Er war schon immer ein Glückskind gewesen, hineingeboren in ein goldenes Nest: Sein Vater hatte an der Börse ein kleines Vermögen verdient. Von klein auf hatte es Steffen Gensner an nichts gefehlt, zumindest an nichts, was man sich mit Geld kaufen konnte.
Aufgewachsen war er in Waldtrudering, einem Stadtteil ganz im Osten Münchens, wo die teuren Grundstücke an den Wald grenzten – besonderer Luxus im urbanen Raum. Als er in der Schule Schwierigkeiten bekam, war er auf ein Privatgymnasium gewechselt. Finanziell aus besten Verhältnissen kommend, dazu gesegnet mit einem blendenden Aussehen – er hatte etwas von Brad Pitt, nur dass er größer und ein bisschen schlaksiger war –, hatte er schon früh Aufmerksamkeit bei den Mädchen erregt. Bald hatte er den Spitznamen Gustav Gans weggehabt – irgendwer von den jungen Leuten musste wohl noch die längst aus der Mode gekommenen »Donald Duck«-Hefte gelesen haben, und zudem war Gans eine freche Parodie auf Gensner. Doch Parodie hin oder her: Er war vom Glück verfolgt! Während viele gleichaltrige Jungs wie zu lang und zu dünn geraten daherkamen, die Gesichter voller pusteliger Akne, hatte er schon mit fünfzehn einfach umwerfend ausgesehen. Die Mädchen, und davon die attraktivsten, hatte er im Handumdrehen erobern können, während sich seine Schulkollegen an den zahnspangigen Zehntklasszicken abmühten.
Gustav Gans.
Sein Vater war eigentlich wohlhabend genug, dass Gensner auch ohne Arbeit hätte auskommen können. Doch irgendwann war er auf die Idee mit der Bergsportausrüstung gekommen, hatte in Berg am Laim den ersten Laden angemietet, bald darauf einen zweiten im Münchner Westend, dann einen in Augsburg – und jetzt war er dabei, nach Ostdeutschland zu expandieren. Es machte ihm Spaß, mit Dingen, die ihn interessierten, und an Leuten, die er oftmals auch interessant fand, Geld zu verdienen.
Gensner hatte alles: zwei Autos, einen Cayenne und einen BMW Z4 Roadster, ein Loft in Haidhausen, beruflichen Erfolg. Mit seiner vier Jahre älteren Lebensgefährtin Mona Regnier hatte er zudem auch die Frau, die gut zu ihm passte – sie war eine aparte Schönheit, arbeitete zehn Stunden am Tag in einer gut gehenden Werbeagentur und war dank elitärem Elternhaus und ausgeprägter Ignoranz gegenüber den Missständen des Lebens bestens dafür geeignet, ihre freien Abende und manchen freien Tag mit Gensner zu verbringen.
Gustav Gans sah es als ganz selbstverständlich an, eine derart attraktive Begleiterin zu haben. Er war es nie anders gewohnt gewesen. Viele beneideten ihn um sie – was ihn jedoch nicht davon abhielt, an besonders beschwingten Tagen die knapp zwanzigjährige Verkäuferin Sonja mittags im Lager des Berg am Laimer Ladens auf die Schlafsäcke zu ziehen.
Gensner war mit viel Eitelkeit, Oberflächlichkeit und mit wenig echten Gefühlen in das Leben hineingeschickt worden – eine ideale Mischung, um erfolgreich zu sein. Er hätte also ein rundum zufriedenes, beinahe sorgloses Leben führen können. Aber in vielen Nächten schlief er unruhig, wälzte sich hin und her, sprach im Schlaf unverständliches Zeug und schrie bisweilen laut auf. Wenn er dann erwachte, war er schweißnass, und seine Lebensgefährtin Mona machte sich ernsthafte Sorgen, ob sie bei Steffen vielleicht an einen Verrückten geraten war.
Dass er nie stillhalten konnte, nie die Ruhe suchte, sondern immer eine Betätigung, meistens irgendetwas Sportives, war ihr schon länger aufgefallen. Dass er nicht einfach nur faulenzen wollte, konnte sie ja noch verstehen. Er war jung, voller Elan, voller Tatendrang. Aber dass er nicht einmal ein Buch schaffte, nicht einmal einen Krimi, war ihr schon suspekt. Wenn es gar nichts für ihn zu tun gab, schaltete er den riesigen Flachbildfernseher an, Bilddiagonale hundertneunzehn Zentimeter, und ließ sich von allem möglichen
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