Kalter Fels
seiner Tage in Frieden leben können, und niemand hätte noch nach ihm gefragt. Aber er musste ja unbedingt ins Tal kommen, hat es nicht mehr ausgehalten ganz allein … und dann hat ihn die Grasberger wiedererkannt. Was hätte er denn tun sollen? Sagen Sie’s mir: Was hätte er tun sollen?«
»Ist er jetzt wieder auf der Alm?«, fragte Hosp.
Sie zuckte mit den Schultern. »Könnte sein, könnte nicht sein. Er hat es heruntergeschafft, hat unzählige gefährliche Lawinenstriche gequert und ist heil davongekommen. Aber ob das auch ein zweites Mal möglich war? Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall kann ich Ihnen sagen, dass ich ihn nicht mehr gesehen habe seit dem Morgen, an dem die Grasberger getötet worden ist.«
Hosp warf einen flüchtigen Blick zur Spiegelscheibe, hinter der Schwarzenbacher saß. Dass Dr. Sinic mittlerweile eingetroffen war, konnte er nicht wissen.
Hedwig Senkhofer folgte seinem Blick. Dann sah sie ihn wieder an. Über ihr Gesicht glitt ein sarkastisches Lächeln.
»Ich habe es gewusst«, sagte sie und zeigte mit einem Nicken auf die Scheibe. »Ich habe es von Anfang an gewusst, dass irgendwer dahinterhockt.«
Hosp sagte nichts dazu.
Ihm ging nur durch den Kopf, was nun getan werden musste, um diesen Ferdinand zu finden. Für den Augenblick hatte er genug von der Frau. Er wollte mit seinem Assistenten sprechen. Und mit Paul Schwarzenbacher. Ferdinand Senkhofer musste gefasst werden, so schnell es nur ging. Es war nicht auszuschließen, dass noch mehr Unheil geschah.
»Wir machen eine kleine Pause«, sagte er. »Danach macht mein Kollege weiter.«
* * *
Superintendent Oltmanns verbrachte zwei unruhige Stunden in seinem Arbeitszimmer. Er überlegte, fasste Entschlüsse – und verwarf sie wieder. Nervös ging er auf und ab, schenkte sich aus einem Krug Leitungswasser in sein Glas, trank dann aber nicht davon, sondern vergaß es völlig. Immer wieder dachte er alle Alternativen durch, die sich ihm anboten.
Die Polizei anrufen und berichten, was dieser junge Mann ihm gebeichtet hatte.
Oder darauf hoffen, dass seine Worte gefruchtet hatten und Klar sich selbst stellen würde.
Oder selbst aktiv werden: herausfinden, wo Klar lebte, wo sein Komplize Gensner lebte – ein bisschen etwas hatte er ja bereits in Erfahrung bringen können.
Oder einfach gar nichts tun, die Sache in Gottes Hand legen und warten, dass seine Gerechtigkeit alles regeln würde.
Ich bin zwar ein Pastor, dachte er, bin gottesfürchtig und fromm, seit ich diesen Weg vor vierzig Jahren eingeschlagen haben. Aber – er dachte dies ganz leise, damit ja niemand etwas davon mitbekommen konnte – so sicher bin ich mir mit Gottes Gerechtigkeit nun auch wieder nicht, als dass ich das einfach aussitzen könnte.
Selbst zu ermitteln, das hielt er für eine Schnapsidee. Bin ja nicht Pater Brown, dachte er. Es war das einzige Mal, dass er während dieser zwei Stunden schmunzelte.
Und die Polizei zu verständigen – das verstieß gegen das Berufsethos des Geistlichen. Aber bei Mord? Oltmanns wünschte sich, dass Klar nie zu ihm gekommen wäre. Nicht mehr lange bis zum Ruhestand, dachte er, und dann so etwas … Aber die Polizei anrufen? Konnte er es mit seinem Gewissen vereinbaren, dass solche Gewalttäter länger frei herumliefen? Konnte er mit sich selbst ins Reine kommen, wenn er in zwei Wochen erführe, Klar hätte ein weiteres Mal gemordet? Doch Klar hatte nicht den Eindruck gemacht, als würde er noch jemanden ermorden können – allenfalls sich selbst. Nein, die Polizei kam nicht in Frage. Noch nicht.
Ich muss wenigstens einmal über diese Angelegenheit geschlafen haben, dachte er.
Dann aber nahm er den Telefonhörer ab und wählte die Nummer der Polizei in Esens.
Den Diensthabenden erkannte er gleich. Einer, der gelegentlich zur Kirche kam. Gewiss ein ganz rechtschaffener Mensch, allerdings ohne religiösen Ehrgeiz. Vielleicht einer, dem in seinem Beruf auch der Glaube an Gottes Gerechtigkeit abhandengekommen war. Nur allzu menschlich, dachte Oltmanns.
»Hallo, Herr Pfarrer. Was verschafft uns die Ehre?« Die Stimme des Beamten klang freundlich und gelassen. Klang nicht so, als hätte sich vor einer halben Stunde ein Mörder auf dem Kommissariat eingefunden.
»Der Grund meines Anrufs …«, begann Oltmanns umständlich. »Also der Grund meines Anrufes ist der, dass ich nachfragen will, ob die Polizei Esens und Landkreis Wittmund dieses Jahr wieder einen Gottesdienst haben möchte … ich meine, so wie alle
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