Kalter Grund - Almstädt, E: Kalter Grund
Dort hatte der Mörder auf ihre Eltern gewartet, und auf ihren Bruder.
Auf dem Hofplatz war durch die Markierungen der Spurensicherung noch zu erkennen, wo die Leichen gelegen hatten. Katrin Bennecke stieg aus und schlug einen großen Bogen um dieses Stück des Hofplatzes. Sie spürte dieselben Beklemmungen wie immer an dieser Stelle.
»Ich muss mich innerlich wappnen«, sagte sie sich, »ich habe das alles erfolgreich hinter mir gelassen, vor sehr langer Zeit schon. Es kann mir nichts mehr anhaben.«
Aber die gedachten Worte klangen in ihrem Kopf dünn und leer. Sie bewahrte die Erinnerungen an eine Kindheit in Isolation und Kälte tief in ihrem Inneren auf, aber hier in diesem Haus drohten sie wieder lebendig zu werden. Der Himmel wurde immer grauer und die Farben verblassten schon. Bald würde es dunkel sein.
Katrin atmete tief durch, schloss die Haustür auf und trat ein. Es überfiel sie plötzlich und unerwartet: Der Geruch! Sie hatte den Geruch vergessen. Sie machte ein Geräusch, das sichin ihren eigenen Ohren wie das Aufheulen eines Tieres anhörte, und ging einen Schritt rückwärts.
Katrin Bennecke war plötzlich wieder zehn Jahre alt und kam von der Schule nach Hause. Es war der letzte Schultag vor den Sommerferien und sie war stolz auf das Versetzungszeugnis zum Gymnasium. Es herrschte eine bedrückende Stille im Haus. Sie rief nach ihrer Mutter, die sie in der Küche vermutete. Ruth Bennecke kam jedoch die Treppe herunter, ihr Blick war seltsam. Sie sah aus wie ein Hund, der verbotenerweise die Speisekammer geplündert hat. Sie begrüßte Katrin mit falscher Freundlichkeit.
»Schön mit dem Zeugnis, war ja aber auch nicht anders zu erwarten gewesen. Komm mit nach oben, es ist etwas passiert.« Sie führte Katrin die steile Treppe hoch. Es wurde immer kälter oben, die Vorhänge im Büro waren zugezogen, der Wind blähte den Stoff nach innen.
Große Geheimnistuerei. Wo war ihre Großmutter? Katrin wollte ihr auch von dem Zeugnis erzählen ... Ruth öffnete die Tür zu Großmutters Zimmer: Elfriede Bennecke lag unnatürlich steif im Bett, ihr Profil sah spitz und vogelartig aus.
»Deine Großmutter ist heute Nacht von uns gegangen. Ich fand sie heute Morgen, als du schon zur Schule warst.« Hatte es an diesem Tag genauso gerochen im Haus? Spielte ihr das Erinnerungsvermögen einen blöden Streich? Sie versuchte, in die Rolle der erwachsenen, erfolgreichen Katrin zu schlüpfen. Eine Rolle, die Halt und Sicherheit versprach. Langsam ging sie durch alle Räume im Erdgeschoss, hatte einen Blick für die Details, wie ein Makler, der ein Haus schätzen soll.
Sie sah Tapeten mit Stockflecken, Teppichboden mit Laufspuren und abgewetztes Mobiliar. Ihre Eltern hatten keinen Wert auf häusliche Behaglichkeit gelegt. Alles war sauber und ordentlich, aber ohne Charme oder Stil. Warum hatten ihre Elternes sich nicht etwas schöner gemacht? Am Geld konnte es Katrins Wissen nach nicht gelegen haben, der Hof lief seit einigen Jahren gut, wenn auch Maltes Ausgaben den Gegenpol zu der pedantischen Sparsamkeit ihrer Eltern gebildet hatten.
Im Grunde waren sich Malte und Katrin in einigen Dingen doch recht ähnlich gewesen: Beide hatten gegen den bescheidenen Lebensstil ihrer Eltern rebelliert. Katrin, indem sie das Geld dazu selber erarbeitete und sich mit ihren Möglichkeiten ein angenehmes Leben erschaffte. Malte, indem er das Geld seiner Eltern nahm, um sich damit ein paar Extravaganzen zu leisten. Allein dieses Motorrad, das jetzt langsam in der Scheune verstaubte, musste eine Stange Geld gekostet haben. Nun war es an ihr, es wieder zu Geld zu machen ...
Es war Ruth und Rainer nicht gelungen, ihren eigenen Begriff von Sparsamkeit und Bescheidenheit an ihre Kinder weiterzugeben. Der Gedanke, dass das alles hier von nun an ihr gehörte, erregte sie und machte sie gleichzeitig beklommen. Zurzeit kümmerte sich ein Betriebshelfer von der Alterskasse um die Kühe und den Betrieb, aber bald würde Katrin Entscheidungen treffen müssen, die in jedem Fall endgültig waren. Das wäre dann das Aus für den ›Hof Grund‹, der Schlussstrich unter ihrer verpfuschten Kindheit.
»Großmutter, hilf mir«, flüsterte sie, bevor sie sich an den Aufstieg ins Obergeschoss machte. Oben war ein Geräusch zu hören, als flatterte ein Vorhang im offenen Fenster.
Es war nicht weiter schwierig für Pia, Verena Lange auf Gut Rothenweide aufzuspüren. In der Stalltür wäre sie fast von einer mit Mist beladenen Schubkarre umgefahren
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