Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kalter Mond

Kalter Mond

Titel: Kalter Mond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giles Blunt
Vom Netzwerk:
hundert aus.«
     
    Zehn Minuten später atmete Cardinal wieder die Chlor- und Verbandsgerüche des Städtischen Krankenhauses von Toronto ein. Mrs. X war in ein Zimmer im dritten Stock verlegt worden. Der Polizeiposten an der Tür hatte so viel Ausrüstung an den Hüften hängen, dass seine Gestalt vage an einen Kegel erinnerte. Cardinal zeigte ihm seine Dienstmarke und wurde hereingewunken. Die rothaarige Unbekannte lag in ihrem OP-Hemd halb aufgerichtet im Bett und las
Chateleine
. Bei seinem Eintreten lächelte sie ihm entgegen; an ihrer Schläfe blitzte ein kleiner, weißer Verband.
    »Sind Sie mein Arzt?«
    »Nein. Ich bin von der Polizei. John Cardinal. Wir haben uns gestern Abend kennen gelernt.«
    »Von der Polizei? Tut mir leid. Ich erinnere mich nicht.«
    »Das macht nichts. Ich möchte wetten, Ihr Gedächtnis funktioniert bald wieder.«
    »Das hoffe ich. Im Moment weiß ich nicht mal, wer ich bin.«
    »Dr. Schaff hat mir gesagt, sie ist ziemlich sicher, dass es wiederkommt.«
    »So große Sorgen mache ich mir nicht mal darum.«
    Cardinal verschwieg, dass Dr. Schaff sich hinsichtlich ihrer normalen Affekte weitaus weniger optimistisch geäußert hatte.
    Das Mädchen drehte sich um und stopfte sich die Kissen zurecht. Cardinal erhaschte einen Blick auf blasse Brüste und schaute weg.
    »Red, ich brauche Ihre Hilfe.«
    »Gerne.«
    »Ich brauche Ihre Erlaubnis, Ihre Kleider durchzusehen, um festzustellen, ob Sie doch irgendetwas dabeihatten, mit dessen Hilfe wir Sie identifizieren können.«
    »Ach so, klar, bedienen Sie sich.«
    Zweifellos war das seitens des Krankenhauses längst geschehen, doch Cardinal öffnete trotzdem den Spind. An einem Drahtbügel hing eine Jeansjacke, daneben eine Jeans. In einem Fach lagen T-Shirt, BH und Schlüpfer. Cardinal notierte sich die Markennamen: Levi’s, Lucky, GAP. Dann kramte er in den Jeanstaschen. Keine Schlüssel, keine Ausweispapiere, keine Quittungen oder Fahrkartenabschnitte, nur ein paar Münzen und ein Nagelknipser. Er griff in die Seitentaschen der Denimjacke und zog eine halbe Rolle Pfefferminz heraus. Nichts Brauchbares zu finden.
    Als er sich wieder umdrehte, sah Red mit leerem Blickaus dem Fenster, als wäre er Luft. Zwischen den Gebäuden hingen kleine weiße Wolken in den rhombenförmigen Ausschnitten blauen Himmels. Dahinter der Betonschaft des CN Tower, des Wahrzeichens von Toronto.
    »Noch etwas«, sagte Cardinal. »Dürfte ich Sie wohl fotografieren?«
    »Ja, warum nicht.«
    Cardinal zog die Jalousien herunter, um eine örtliche Zuordnung anhand des Hintergrunds zu vermeiden. Dann setzte er die junge Frau davor und ließ sie den Kopf so drehen, dass die kahl rasierte Stelle nicht zu sehen war. Er machte eine Nahaufnahme mit seiner Polaroid.
    Als er ihr das Ergebnis zeigte, kam keinerlei Reaktion.
    »Morgen werden Sie wieder nach Algonquin Bay überstellt«, sagte Cardinal. »Geht das für Sie in Ordnung?«
    »Ich weiß nicht, wo das ist«, sagte sie. »Ich weiß nicht mal, ob ich von da stamme.«
    »Davon müssen wir so lange ausgehen, bis wir etwas Gegenteiliges wissen.«
    Eine blasse, sommersprossige Hand tastete wie beiläufig die Ränder ihres Verbandsmulls ab. Cardinal rechnete fest mit der unangenehmen Frage, wo sie in Algonquin Bay wohnen würde, doch sie sagte nichts. Nur dieses unverändert friedliche Lächeln. Umso besser, dann musste Dr. Schaff das übernehmen.
    »Hören Sie, ehm, Red, entschuldigen Sie bitte, ich nenne Sie nur so, bis wir Ihren Namen wissen …«
    »Schon in Ordnung, das macht mir nichts.«
    »Wir werden sehr bald eine Vermisstenmeldung zu Ihrer Person rausgeben. Eine junge Frau wie Sie verschwindet nicht einfach so, ohne dass es einer merkt. Dann werden wir wissen, wer Sie sind und woher Sie stammen. Bis dahin stehen Sie unter Polizeischutz, rund um die Uhr.«
    »Ja, gut.«
    Sie protestiert nicht, sie fragt nicht, warum, dachte Cardinal. Sie scheint keine Angst zu haben und nicht einmal neugierig zu sein.
    Umso mehr fühlte er sich verpflichtet, auf die Fragen, die sie selbst nicht stellte, die Antwort zu finden.

4
     
    D ie Polizeidienststelle Algonquin Bay ist nicht so ein Drecksloch, wie man es von Krimiserien über die New Yorker Polizei kennt. Seit der Eröffnung des neuen Präsidiums vor zwölf Jahren hat sich die Kripo das fade Dekor einer kleinen Bausparkassenfiliale bewahrt. Die Fenster an der Ostseite gewähren – zumindest morgens – gutes Licht und dazu einen ausgezeichneten Blick über den

Weitere Kostenlose Bücher