Kalter Mond
dem Waschraum zurückkam. An ihrer linken Augenbraue klaffte eine tiefe Platzwunde von mindestens acht Millimetern.
»Ich werd’s überleben.« Sie setzte sich im Großraumbüro in die Kabine neben seiner. »Wie geht’s unserer Mrs. X?«
Cardinal hatte Delorme angerufen, nachdem er sich den Ballistik-Bericht abgeholt hatte.
»Mrs. X ist unverändert Mrs. X«, sagte er. »Die Neurochirurgin glaubt, sie kriegt ihr Gedächtnis wieder, aber niemand weiß, wann.«
»’ne Kugel im Kopf – also, ich geh doch recht in der Annahme, dass wir keine Anzeigen mit der Frage
Kennen Sie diese Frau?
in die Zeitung setzen?«
»Nein. Derjenige, der auf sie geschossen hat, soll nicht erfahren, dass wir sie gefunden haben, geschweige denn, dass sie noch lebt. Du hast noch nichts zu der Waffe ausgegraben?«
»Du meinst, ob sie bei früheren Verbrechen verwendet wurde?« Delorme schüttelte den Kopf. »Nichts Passendes«, und sie fügte in einem beiläufigen Ton hinzu: »Allerdings hab ich die Liste der als gestohlen gemeldeten Schusswaffen überprüft. Überraschung – wie sich rausstellt, hatten wir vor drei Wochen genau so eine.«
»Du machst Witze. Eine 32er Pistole?«
Delorme hielt einen Zettel hoch, auf den sie einen Namen und eine Anschrift geschrieben hatte.
»Vermisst. Eine Pistole. Kaliber zweiunddreißig. Hersteller: Colt. Modell: Police Positive.«
Rod Milcher wohnte in einem gepflegten Halbgeschosshaus im Stadtteil Pinedale, dereinst eine feine Adresse, inzwischen aber, dank der Ausbreitung trister Betonwohnblöcke, eine Gegend für frisch verheiratete Paare. Pinedale ist das Viertel, in dem man, im Maklerjargon, Erstkäufer-Eigenheime findet.
Anders als Jasper Crouch war Milcher der Polizei nicht einschlägig bekannt. Genauer gesagt, überhaupt nicht bekannt. Und sein Haus mit dem sauber getrimmten Rasen undder hübschen Zedernhecke wirkte nicht wie das eines Kriminellen – wie das eines Zahnarztes vielleicht. Das einzig Ungewöhnliche an diesem Domizil prangte in der Einfahrt: ein dralles, chromblitzendes Motorrad.
»Eine Harley, Baujahr fünfundsechzig«, sagte Cardinal, bevor sie auch nur ausgestiegen waren.
»Keine zehn Pferde würden mich auf so ’n Ding kriegen«, sagte Delorme. »Ein Freund von mir ist mit sechsundzwanzig auf so was tödlich verunglückt. Hat gegen einen Betonmisch-Lkw den Kürzeren gezogen.«
»Enger Freund?«
»Hmm. Hielt sich für einen harten Burschen, war er aber nicht.«
Cardinal klopfte am Seiteneingang. Es war kurz nach sechs; sie hatten so lange gewartet, bis Milcher voraussichtlich zu Hause wäre. Eine Frau, vielleicht Mitte dreißig und im Straßenkostüm, erschien an der Tür. Wie um den Chefetagen-Look mit etwas Häuslichem auszugleichen, hielt sie einen Kochtopf in der Hand. »Ich interessiere mich nicht für Religion«, sagte sie durch die Fliegengittertür. »Wie oft muss ich das denn noch sagen?«
Delorme hielt ihre Dienstmarke hoch. »Ist Rod Milcher wohl zu Hause? Wir hätten ein paar Fragen.«
Die Frau drehte den Kopf zur Seite, ohne sich sonst zu rühren, und brüllte: »Rod, die Polizei für dich! Pack schon mal deine Zahnbürste ein!«
Sie öffnete die Gittertür. »Machen Sie schon. Sonst kommen die Insekten rein.«
Die Seitentür führte durch einen Vorraum in die Küche. Cardinal und Delorme blieben neben einem für zwei gedeckten Resopaltisch stehen, während die Frau sich mit einem Schäler an einen Berg Kartoffeln begab.
»Darf man fragen, was es für Probleme gibt?«, rief ihnenvon der Dielentür ein winziger Mann in kariertem Hemd und Khakihose zu, die er nicht annähernd auszufüllen vermochte.
»Mr. Milcher, Sie sind der registrierte Eigentümer einer Pistole Kaliber 32, ist das richtig?«, fragte Cardinal. »Eines Colt Police Positive?«
»Ja. Und? Haben Sie ihn gefunden?«
»Können Sie uns Näheres dazu sagen, wie Ihnen die Waffe gestohlen wurde?«
»Das hab ich doch schon angegeben. Steht alles im Bericht.«
»Wir würden es aber gerne noch mal von Ihnen hören«, sagte Delorme.
»Meine Frau und ich waren übers Wochenende in Toronto. Als wir zurückkamen, war die Pistole weg. Zusammen mit ein paar anderen Sachen – der Stereoanlage und der Kamera.«
»Und wieso haben Sie überhaupt einen Waffenschein?«
»Ich leite die Abwicklungsstelle für Zellers. Ich muss häufig nachts beträchtliche Summen einzahlen, wenn der gepanzerte Wagen schon weg ist.«
»Arbeiten Sie nach wie vor dort?«
»Ja.«
»Wie wär’s, wenn Sie uns
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