Kalter Mond
vernichtend traf es ihn, wenn sie so wie jetzt war, wenn Catherine sich gegen ihn stellte und ihm seine Liebe vor die Füße knallte.
»Willst du nicht herkommen und dich zu mir setzen?«, sagte er. »Es ist eine Bitte, kein Befehl.« Er hielt ihr die leeren Hände entgegen. »Und keine Leine.«
»Du hast nur Angst, dass ich runterfalle.«
»Nein, Liebling, ich bin außer mir vor Sorge. Komm setz dich.«
Catherine sah sich um: den Himmel, den Mond, den Abgrund unter ihr. Sie wankte ein wenig.
»John, stimmt tatsächlich, dass man nicht runterschauen darf.«
»Sieh mich an«, sagte Cardinal. »Sieh mich einfach nur an und komm her.«
Catherine hob eine Kamera in Augenhöhe. »Oh, du siehst so gut aus, wie du da sitzt. Ja, ein wenig dichter ran, und ein Stativ würde helfen. Auch wenn ich sagen muss, dass dieserMann im Moment so aussieht, als hätte er gerade genug von mir.«
Sie drückte auf den Auslöser. Dann schlang sie sich die Kamera wieder über die Schulter und kam auf ihn zu, ohne sich jedoch hinzusetzen. Sie lief schnurstracks zu der Holztreppe und stieg hinunter. Cardinal folgte ihr, die Stufen hinab, dann die zweite Treppe und über die Plattform zurück. Dabei dachte er: Wer ist hier eigentlich das Hündchen? Wer hat wen an der Leine?
Sie stieg ohne weiter zu protestieren in den Wagen, doch nur wer schon mit Geisteskrankheit zu tun gehabt hat, weiß, wie qualvoll das war, was jetzt folgte: die Anschuldigungen und Beschwerden, die Beleidigungen, die ihm erst an den Kopf geschleudert und dann zurückgenommen wurden, die endlosen Verhandlungen – Argument und Gegenargument – und vor allem die Tränen. Catherines Wangen glänzten nass – von Tränen der Frustration, Tränen des Zorns, des Kummers, der Reue und der Demütigung.
Cardinal, bereits müde von einem langen Arbeitstag und eine lange Heimfahrt vor Augen, war am Ende völlig erschöpft.
Catherine dagegen schien ungeachtet der Tränen unter dem Adrenalinstoß sowie einem starken Cocktail aus teils bekannten, teils unbekannten neuronalen Botenstoffen geradezu aufzublühen.
Als Polizist hatte Cardinal natürlich ständig mit allen möglichen Charakteren und einer großen Bandbreite an geistiger und emotionaler Labilität zu tun. Unter solchen Umständen waren die zuverlässigsten Waffen im Arsenal des Cops eine feste Stimme und die Unterstützung eines Sanitäters mit einer Nadel voll Diazepam. Doch er brachte es nicht über sich, diese Waffen gegen die Frau einzusetzen, die er schon ein halbes Leben lang liebte. Schließlich musste sie ihm, wenn sie wiederBoden unter den Füßen hatte, ins Auge sehen können. So blieben die endlosen Verhandlungen.
Cardinal fuhr sie immer wieder rund um die Häuserblocks der Innenstadt und vertrat die Stimme der reinen Vernunft. Er wusste aus langer Erfahrung, dass Catherines Highs einen bestimmten Punkt erreichten, eine Art Abendstunde kurz vor dem Schlaf – wenn sie denn noch schlafen konnte –, in der man zu ihr durchdringen konnte. Die physische Erschöpfung brachte dann die stürmischsten Ausläufer ihrer Stimmungsschwankungen zur Ruhe, und sie konnte zuweilen sogar hören, was er ihr zu sagen versuchte.
Am Ende, nach ihrer fünfzehnten Umkreisung des stillen, menschenleeren Parks, erklärte sie sich einverstanden, mit ihm ins Krankenhaus zu kommen.
Er fuhr in die College Street zurück, zum Noteingang des Clarke Institute.
Sie mussten lange warten, wenn auch nicht annähernd so lang wie in einem normalen Krankenhaus: Die Hälfte der Fälle, die ins Clarke eingewiesen werden, sind Verlegungen von anderen Einrichtungen oder Patienten, die von Sozialarbeitern oder Polizisten gebracht werden, und die Aufnahme geht meistens reibungslos vonstatten.
Cardinal hatte noch in einer anderen Hinsicht Glück: Als die Aufnahmeschwester sie in ein Untersuchungszimmer führte, hörte er eine vertraute Stimme in singendem Tonfall rufen: »Catherine?« Dr. Carl Jonas kam, Klemmbrett in der Hand, mit wallenden grauen Locken, quer durch die Notaufnahme auf sie zu. »Ja so was, Catherine, ich hab gehört, dass Sie heute Nacht vielleicht zu uns kommen. Was führt Sie her?«
Catherine wandte sich seinem rosigen, freundlichen Gesicht zu und brach in einen neuen Tränenstrom aus.
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K evin Tait hatte vielleicht mehr als die meisten Männer Anfang zwanzig schon viel Erfahrung mit emotionalen Ups und Downs – als Junkie, wenn auch nicht Dauerjunkie, blieb einem das nicht erspart. Zuerst einmal sind da die
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