Kalter Mond
südwestlichen Ecke. Sie stand am Zugang zu einem Fußgängertunnel unter einem riesigen Baugerüst.
»Sie muss da drinnen sein«, sagte sie und deutete mit dem Daumen auf die Baustelle. »Ich war nicht weiter als zwanzig Meter hinter ihr. Aber ich hab keine Ahnung, wie sie da reingekommen ist.«
»Falls es einen Weg gibt, findet sie ihn.«
»Kann ich noch irgendetwas tun? Ich meine, ich sollte vielleicht nicht da sein, wenn Sie sie da rausholen. Ich fühl mich ziemlich mies, ihr so nachzuspionieren.«
»Keine Sorge, Sie haben das Richtige getan. Ich weiß das wirklich zu schätzen.«
»Wenn Sie meinen. Dann viel Glück.« Sie drehte sich um und lief Richtung U-Bahn-Station.
Cardinal trat näher an die Baustellenpassage heran. In die Elemente der Bretterwand war eine Reihe rechteckiger Löcher eingeschnitten, kleine Fenster, durch die neugierige Passanten das Gelände sehen konnten. Cardinal schaute durch das höchste davon.
Die Baustelle war gigantisch, wenn auch in diesem Stadium nicht viel mehr als eine Betongrube mit Eisenträgern, die in den Himmel ragten. Auf einem der Träger bewegte sich ein Schatten, dann blitzte plötzlich etwas auf – ein Licht, das sich in einer Linse fing.
Cardinal hastete durch den Tunnel, so dass seine Schritte von den Holzwänden widerhallten. Ein wenig weiter hinten befand sich ein Maschendrahtzaun, und Cardinal sah auf Anhieb, wo Catherine einen Durchschlupf gefunden hatte. Oberhalb des Maschendrahts war Stacheldraht gespannt, der jedoch an den Kanten der Bretterverschalung zu Ende war. Cardinal brauchte dreißig Sekunden, um den Zaun hochzuklettern und sich auf das Dach der Passage zu hieven.
Catherine war verschwunden, er konnte sie nirgends entdecken. Auf der Baustelle brannten nur wenige Lichter, und der Mond war von einer schweren Wolke verdeckt. Seine größte Sorge war, dass Catherine einen der Materialaufzüge in Gang setzen und auf diesem gewaltigen Stahlgerüst landen könnte.
Er rannte ans Ende der Plattform und sprang auf die Ladefläche eines geparkten Pritschenwagens. Von dort schaute er auf eine Art Sims etwa von der Breite einer Landstraße rund um die Grube, von dem wiederum mehrere Holzplankenbrücken zu den im Bau befindlichen Geschossen hinüberführten.
Cardinal betrat die nächstbeste Brücke. Das Sinken und Schwanken der Latten versetzte seinen Magen in Schwingung. Die Grube war tiefer, als von außen zu ahnen – es waren mindestens sechs unterirdische Parkgeschosse im Bau. Ein Zementsilo-Lkw am Boden erschien von hier aus wie im Spielzeugformat.
»Hallo, John.«
Ihre Stimme war leise. Es war nie vorherzusehen, wie sie sich bei einem ihrer Highs verhalten würde. Diesmal sprach sie so sanft wie eine gütige Gestalt in einem Traum.
Cardinal blickte hoch.
Er sah Catherines Silhouette zwei Stockwerke über sich, in der nächtlichen Brise flatterte ihr Haar. Bevor er etwas sagen konnte, brach der Mond hinter der Wolke hervor und erleuchtetegespenstisch bleich Catherines Gesicht. Sie stand auf dem Vorsprungsende eines Trägers über einem acht Stockwerke tiefen Abgrund.
»Ist das nicht außergewöhnlich?«
»Catherine, würdest du bitte wieder auf die Plattform zurückgehen?«
»Ein im Bau befindliches Haus hat so etwas Vollkommenes. Du kriegst sozusagen den Schädel unter der Haut zu sehen. Ich meine, aus der Sicht des Ingenieurs. Dann gibt es natürlich noch den menschlichen Aspekt: Wenn du dir eine Pfeilspitze ansiehst oder ein Stück von einer römischen Mauer, hast du auf einmal ein Gefühl dafür, wie ein Mensch das mit seinen Händen geschaffen hat. Vor tausenden von Jahren hat ein Mensch, der genauso geschwitzt und geblutet und geatmet hat wie du und ich, seine Aufmerksamkeit für eine Weile auf diesen Ziegel, diesen Stein gerichtet, auf diesen kleinen Felsbrocken vielleicht – oder, wie in unserem Fall, auf diesen Träger.«
Zur Bekräftigung stampfte sie ein wenig mit dem Fuß und schwankte leicht.
»Catherine, bitte. Geh zur Plattform zurück.«
Cardinal fand die behelfsmäßige Holztreppe und stieg hinauf. Als er das nächste Geschoss erreichte, wirbelte Catherine gerade auf der Trägerspitze herum und setzte wie im Flamencoschritt einen Fuß vor den anderen.
»Catherine, bitte. Versuch, dich aufs Hier und Jetzt zu konzentrieren. Es ist ziemlich tief bis zum Boden, und egal, wie gut du dich im Moment fühlst …«
»Ich fühl mich großartig, verdammt!« Sie warf den Kopf zurück und lachte. »Ich möchte mich immer so fühlen
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