Kalter Mond
Secondaire Algonquin und den grauen Zinder, der sich an der Trasse der Canadian National Railway entlangzieht. In diesem Bau ist die psychiatrische Abteilung untergebracht. Normalerweise gibt es hier eine Schar von etwaeinem halben Dutzend Patienten, die wegen eines Selbstmordversuchs, einer Überdosis Drogen oder, im Fall von Teenagern, wegen komplizierter emotionaler Probleme aufgenommen werden – somit Patienten, die als nicht verrückt genug eingestuft werden, um in das Ontario Psychiatric Hospital zu kommen, die hiesige psychiatrische Klinik, in die Catherine wegen ihrer Depressionen eingeliefert worden war.
Cardinal und Delorme waren da, um nach Mrs. X zu sehen, doch im Moment konnte sich Cardinal schlecht darauf konzentrieren, da der Anblick eines Krankenhauses ihn wieder an Catherine erinnerte.
Vielleicht bestand wirklich kein Grund zur Sorge. Vielleicht war Catherines ganze Aufregung wegen ihres Ausflugs nichts weiter als ganz normales Reisefieber. Sie hatte keine phantastischen Höhenflüge gemacht, keinerlei Allmachtswahn an den Tag gelegt, ihm keine kosmischen Pläne eröffnet, wie sie das Wesen der Dinge, wie wir sie jetzt kennen, verändern wollte. Vielleicht war es wirklich nur kindliche Vorfreude auf eine Fotosafari in der Metropole. Bei einer anderen Frau wäre das kein Grund zur Besorgnis gewesen, aber bei ihr …
Cardinal und Delorme nahmen den Fahrstuhl in den dritten Stock mit dem psychiatrischen Flügel. Sie hatten einen Termin mit einem Neuropsychologen vereinbart, der konsultiert worden war, um dem geheimnisvollen Rotschopf dabei zu helfen, das Gedächtnis wiederzuerlangen. Das städtische Krankenhaus verfügte über keine neuropsychologischen Spezialisten. Es gab überhaupt nur einen in der ganzen Stadt, und auch der war nur auf Pump: Dr. Garth Paley hielt an der Schwesternschule der Northern University ein Gastseminar ab.
Falls ich je einen Seelenklempner nötig habe, dann bitte schön einen, der genau wie der hier aussieht, dachte Cardinal, als Dr. Paley sich vorstellte. Er trug eine Tweedjacke undJeans, was den Eindruck vermittelte, dass er sich in einer Bibliothek ebenso zu Hause fühlte wie in einer Bar. Obwohl erst Mitte fünfzig, hatte er großväterlich weißes Haar und einen silberdurchzogenen Bart. Seine Brauen waren dunkel und überschatteten seine Augen auf eine Weise, dass sie scharfsichtig, beinahe zupackend wirkten. Ein Mann, der verstehen und sich einfühlen konnte, bevor man ein einziges Wort sagte. Es gibt Leute, die sich einfach perfekt für ihren Beruf eignen; Cardinal wünschte sich oft, er wäre einer davon.
»Ich weiß es sehr zu schätzen, dass Sie mir Bescheid gegeben haben, bevor Sie meine kleine Mrs. X besuchen«, sagte Dr. Paley. »Bitte setzen Sie sich.«
Das Büro, in dem sie sich befanden, hätte überall sein können. Es verfügte über den obligatorischen Computer, die in der Wand verdübelten Bücherregale aus Metall. Es war ein ungemütliches Zimmer, das zu Dr. Paley ganz und gar nicht passte.
»Ein paar Dinge sollten Sie wissen, bevor Sie mit ihr reden«, sagte er. »Zunächst einmal, Detective, haben Sie am Telefon erwähnt, ihr Gedächtnisverlust sei hoffentlich vorübergehender Natur. Die Antwort lautet: Es ist kein Gedächtnisverlust.« Dr. Paley grinste sie an, und seine Wangen färbten sich rosa. Ein jugendlicher Weihnachtsmann.
»Ich verstehe nicht ganz«, sagte Cardinal. »Sie weiß nicht, wer sie ist und wo sie herkommt …«
Dr. Paley hob einen manikürten Finger. »Das ist keine Amnesie. Es ist posttraumatische Verwirrung. Wir wissen nicht, was genau sich dabei abspielt, aber in etwa kann man es so erklären: Wenn das Gehirn einer heftigen Erschütterung ausgesetzt ist, geraten die Neuronenbahnen durcheinander, und die Informationen fließen nicht mehr wie gewohnt. Sie hat nicht wirklich vergessen, wer sie ist, sie kann es nur nicht abrufen.«
»Aber früher oder später stellt sich das wieder ein, oder?«, fragte Delorme.
»Oh ja. Dr. Schaff hat mir versichert, dass der tatsächliche Hirnschaden minimal ist. Wir können davon ausgehen, dass die normalen Affekte wiederkommen, vermutlich in einer Woche, spätestens in drei. Und bis dahin müsste sie auch wieder über eine einigermaßen lückenlose Biografie verfügen.«
»Und was ist mit dem Verbrechen selbst? Dem Schuss?«
»Daran wird sie sich nie erinnern.«
»Kann ich ihr nicht verdenken«, murmelte Delorme. »Das muss ziemlich schrecklich gewesen sein.«
»Nicht deshalb«,
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