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Kalter Mond

Kalter Mond

Titel: Kalter Mond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giles Blunt
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sagte Dr. Paley. »Sie unterdrückt die Erinnerung nicht – die Information ist einfach nicht vorhanden. Viele machen den Fehler, sich Erinnerungen wie einen Videofilm vorzustellen. So funktioniert es aber nicht. Es ist keine Aufzeichnung von dem, was passiert ist. Zweierlei Kodierabläufe sind erforderlich, bevor ein Ereignis im Langzeitgedächtnis abgespeichert wird. Als Erstes muss es vom Gehirn auf eine Art und Weise bearbeitet werden, die es verständlich macht. Danach wird die Information in etwa zwanzig Minuten, das kann unterschiedlich sein, ins Langzeitgedächtnis eingespeist – das im Gehirn woanders lokalisiert ist und mit anderen Abrufmechanismen arbeitet. Falls ein Trauma im Gehirn einen Schock auslöst, bevor das passiert, ist es so, als wären das Ereignis selbst und alles andere eine halbe Stunde davor und danach nie geschehen.«
    Cardinal ließ die Schultern hängen. »Dann bekommen wir also nichts aus ihr raus?«
    »Fürchte, nein.«
    »Können Sie es nicht mit Hypnose versuchen?«
    »Gott bewahre. Hypnose ist vollkommen diskreditiert. Erinnern Sie sich an diese Kindsmissbrauchs-Hexenjagd? Missbrauch bei Satanismus-Ritualen? Kitas, in denen Orgienstattfanden? Nichts von alledem wurde je bewiesen. Darüber hinaus haben die Befragungsprotokolle gezeigt, dass die Erinnerungsfetzen, die nicht auf kindliche Phantasien zurückzuführen waren, ihnen erst von übereifrigen Polizisten, Staatsanwälten und Sozialarbeitern eingeimpft worden waren. Dasselbe gilt für Natriumamytal. Damit bekommt man das zu hören, wovon der Patient glaubt, dass man es hören will, statt die Wahrheit. Aber keine Sorge. Im Lauf der Zeit werden Sie eine Menge aus dieser Frau herausbekommen. Eben nur nicht eine direkte Erinnerung daran, wo und von wem sie angeschossen wurde. Sie können sich das wie bei einem Computer vorstellen. Sie wissen, was passiert, wenn Sie mit Ihrem Textverarbeitungsprogramm etwas eintippen und der Strom ausfällt, bevor Sie es gespeichert haben?«
    »Ja«, sagte Delorme, »leider.«
    »Hier ist es ganz ähnlich. Und ich möchte, dass Sie gewarnt sind, bevor Sie mit ihr reden. Menschen sind in einem verwirrten Zustand extrem beeinflussbar. Wenn Sie da reingehen und ihr beispielsweise suggerieren, ihr Bruder hätte den Schuss abgefeuert, wird sie anfangen, sich daran zu ›erinnern‹, wie ihr Bruder sie angeschossen hat. Daher die Bitte – im Interesse dieser jungen Frau wie auch im Interesse Ihres Falls –, suggerieren Sie ihr nicht, wie es möglicherweise zu dem Schuss gekommen sein könnte oder auch nur, was sie vielleicht in Algonquin Bay zu suchen hat. Falls Sie andeuten, sie sei hier eventuell zur Schule gegangen oder so was in der Art, dann wird sie sich erinnern, wie sie hier zur Schule gegangen ist. Deshalb nehme ich alle meine Gespräche mit ihr auf Video auf. Die Leute sollen wissen, dass es ihre Erinnerungen sind und nicht meine.«
    »Falsche Erinnerungen sind das Letzte, was wir brauchen können«, sagte Cardinal. »Aber wir müssen rausfinden, wer hinter ihr her ist.«
    »Ich hoffe, Sie finden es raus. Nur, fragen Sie nicht das Mädchen.«
    »Selbst wenn wir nichts suggerieren?«
    »Sie werden nur ihren Fortschritt verzögern. Sie wird verzweifelt versuchen, sich zu erinnern, und das wirft sie nur zurück.«
    Dr. Paley nahm einen Henkelbecher, den eine fette Tigerkatze zierte, zur Hand. »Entschuldigen Sie«, sagte er. »Ich hab mir gerade Tee gemacht. Möchten Sie auch eine Tasse? Oder lieber Kaffee? Ist allerdings eine scheußliche Brühe, fürchte ich.«
    Cardinal und Delorme lehnten dankend ab.
    »Wir alle wissen ja, wie es ist, wenn wir versuchen, uns einen Namen oder einen Filmtitel ins Gedächtnis zu rufen, der uns auf der Zunge liegt. Man zermartert sich das Hirn, aber es klappt nicht. Eine halbe Stunde später dann, wenn wir es nicht mehr versuchen, fällt er uns auf einmal wieder ein.«
    »Was werden Sie demnach für sie tun?«, fragte Delorme. »Sie einfach nur für drei Wochen im Bett behalten?«
    »Nein, wir stellen mit ihr das Übliche an, wenn sie will. Ich bevorzuge die indirekte Methode. Ich werde unserer jungen Patientin die verschiedensten Stichworte geben. Anreize – Musik, Bilder, Gerüche –, die möglicherweise eine Reaktion auslösen. Wissen Sie, was? Wie wär’s, wenn Sie einfach zu ihr reingehen und sich mit ihr bekannt machen würden? Sie wird sich nicht an die erste Begegnung mit Ihnen erinnern, Detective, aber vielleicht können Sie ein gutes Verhältnis zu

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