Kalter Mond
gut, wovon er redet.«
»Sicher, aber es ist ja wohl nicht ohne Grund, dass wir bis jetzt nicht mit ihm gearbeitet haben. Ich meine, Sie haben doch wohl auch was läuten gehört?«
Cardinal hatte was läuten gehört. Manche Leute sind einfach wie dafür geschaffen, Klatsch anzuziehen; andere fordern ihn geradezu heraus.
Auf Angus Chin traf beides zu. Zunächst war da schon mal sein familiärer Hintergrund – sein schottischer Vater war Matrose bei der Handelsmarine, seine Mutter Pharmazeutin aus Hongkong. An einem Ort wie Algonquin Bay war das exotisch, wenn nicht gar suspekt.
Und dann seine äußere Erscheinung: Der schottische Anteil von Chins Vorfahren hatte seine Augen ein wenig gerundet und sein Haar leicht gelockt, was ihn nicht daran hindern konnte, es zu einem Mandarin-Pferdeschwanz zusammenzubinden, der ihm bis ans Steißbein reichte, und das, obwohl erChina nie näher gekommen war als bis zur University of California in L. A.
Die Gerüchteküche brodelte, kaum dass er nach seiner überaus langen Ausbildung in Toronto und Los Angeles wieder heimischen Boden betrat: Er rannte vor einer mörderischen homosexuellen Liebesaffäre davon; er arbeitete in irgendeiner finsteren Machenschaft für China; er war ein Arzt, dem wegen unorthodoxer Behandlungsmethoden die Lizenz entzogen worden war.
Doch nicht wegen dieser Gerüchte drehte Paul Arsenault sich zu Cardinal um und nahm seine alberne Sonnenbrille ab, um ihn eindringlich anzusehen.
»Ich rede nicht von diesem harmlosen Geschwätz. Ich rede von
dem
Gerücht, mit großem D und großem G.«
»Ach so, ja. Das große Gerücht«, sagte Cardinal.
»Und das ist Ihnen egal?« Arsenault knuffte Cardinal in den Arm. »Sie meinen, das hat keinen Einfluss auf den Fall?«
»Ich weiß nur so viel über das Gerücht, dass es ein Gerücht ist. Es ist keine Tatsache, und wir sollten wohl nicht gerade davon reden, wo wir dem Mann gleich gegenüberstehen.«
Arsenault zuckte dramatisch die Achseln. Er setzte die Sonnenbrille wieder auf und sah nach vorne auf die Straße.
Das große Gerücht drehte sich um Angus Chins Interesse an Parasitologie und das Studium von Bandwürmern. In der Stadt flüsterte man sich zu, dass er sich einen Bandwurm als Haustier halte. Natürlich knüpften sich die unvermeidlichen Fragen daran:
Wie denn? Um Gottes willen, wo?
Die Antwort lautete, dass Dr. Chin seinen Bandwurm dort hielt, wo Bandwürmer nun einmal leben, in seinem Darm. Er änderte seine Essgewohnheiten oder andere Variabeln und studierte die Reaktion des Wurms. Wuchs er langsamer oder schneller? Wurde er dicker oder dünner? Und wie konnte er diese Reaktionen messen? Wie bekam er Zugang zu seinem Versuchsobjekt?Er fastete zwei Tage. Am dritten legte er sich einen Würfel Zucker auf die Zunge. Der Wurm, der die Nähe von Nahrung witterte, arbeitete sich dann den Verdauungstrakt hinauf und erreichte irgendwann die Speiseröhre. Dann passte der Doktor den richtigen Moment ab und zog den Wurm aus seiner Kehle – kein Leichtes, wenn man bedenkt, dass die Kreatur angeblich einen Meter fünfzig lang war.
»Und ist Ihnen klar, was ein fähiger Verteidiger gegebenenfalls vor Gericht mit einer solchen Information machen wird?« Diesmal behielt Arsenault die Sonnenbrille auf. Er starrte Cardinal an, und es war, als würde man von einer riesigen Fliege beäugt. Er äffte einen Anwalt nach. »Dr. Chin, würden Sie dem Gericht wohl verraten – pflegen Sie irgendwelche Hobbys? Haben Sie Haustiere? Einen Bandwurm, verstehe. Und wo halten Sie Ihren kleinen Schatz? In Ihrem Darm. Wie höchst eigenartig. Und stimmt es auch, dass Sie ihm regelmäßig Auslauf gönnen?«
»Chin macht keine Aussagen vor Gericht«, sagte Cardinal. »Als Vollzeitakademiker kann man Richtern und Staatsanwälten nicht ständig auf Abruf zur Verfügung stehen.«
Er fand eine Parklücke, und sie liefen zum Gebäude der Naturwissenschaftlichen Fakultät hinüber. Im letzten Sonnenlicht glühte der Backstein dunkelorange. Vom See wehte eine frische, feuchte Brise herüber, und in den Bäumen raschelte der Wind. Der ganze Campus leuchtete um diese Zeit in einem intensiven Grün.
Aus dem Studententreff strömte eine Gruppe Mädchen, die lautstark und energisch plapperten.
»Mannomann«, sagte Arsenault, »Die werden mit jedem Jahr jünger. Mir kommen Collegestudenten wie Kinder vor.«
»Sind sie ja auch.« Cardinals eigene Tochter hatte das College erst ein paar Jahre hinter sich.
Sie folgten den Schildern zum
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