Kalter Mond
die Achseln, eine Geste, die an ihr, zumindest nach Cardinals Gefühl, etwas ausgesprochen Französisches hatte. »Vielleicht, weil ich es mehr verabscheue, wenn Frauen sich schlecht benehmen. Oder wenn sie offenbar nicht wissen, was in ihrem eigenen Interesse liegt.«
»Ich glaube nicht, dass Miss Tait zu einer dieser Kategorien gehört.«
Delorme schüttelte den Kopf.
»Du bist so leicht zu durchschauen, Cardinal. Du kennst diese Frau nicht mal, aber du scheinst dir einzubilden, nur weil sie im selben Alter wie deine Tochter ist, wüsstest du alles über sie.«
»Das ist derart an den Haaren herbeigezogen, dass ich mich nicht dazu äußern werde.«
»Aber es stimmt.«
»Wirklich, ich werde nichts dazu sagen.«
»Soll mir recht sein.«
»Willst du nach Lakeshore oder was?«
Delorme wechselte die Spur, um einen Geländewagen zu überholen, und gab Gas.
In den Vierziger- und Fünfzigerjahren schossen Motels und Cottages den ganzen Lakeshore Drive entlang wie Pilze aus dem Boden, um aus dem schönen Blick auf den Lake Nipissing Gewinn zu schlagen. In den Sechzigern und Siebzigern folgten dann kastenartige Wohngebäude. Natürlich existiert der schöne Blick nicht mehr. Auf der nördlichen Seite befinden sich die Einkaufspassagen und Schnellimbissbuden und auf der südlichen die Motels.
Dicht hinter der Stadt schließen sich das Phoenix, das Avalon und Kathy’s Kute Li’l Kottages an, und ein Stück weiter folgt die nächste Gruppe, zu der das Loon Lodge, The Pines und das mit dem ominösen Namen Journey’s End gehören. Niemand hat je zufriedenstellend erklären können, wie das letzte Hotel an der Straße, ein schlichter Bungalow aus rotem Ziegel, an den Namen Catalonia kommt.
Das Catalonia befindet sich an dem Abschnitt des Lakeshore Drive, der in einem Bogen zum Highway 11 hinaufführt. Es liegt nicht direkt am See, sondern auf der anderen Straßenseite, weshalb das Schild solchen Luxus wie kostenlose Ortsgespräche oder klimatisierte, saubere Zimmer anpreist. Cardinal und Delorme fingen mit dem Catalonia an und arbeiteten sich von da aus Richtung Stadt voran, indem sie die Besitzer jeweils fragten, ob kürzlich einer ihrer weiblichen Gäste verschwunden sei.
Der Spätfrühling ist für diese Motels eine Zwischensaison. Eisfischen und Schneemobilsport sind lange vorbei, für die Sommersportarten ist es noch zu früh. Und jeder, der einmal um diese Jahreszeit in Algonquin Bay gewesen ist, macht denselben Fehler kaum noch mal. Kurz gesagt, gab es sehr wenig Touristen, die verloren gehen konnten, und laut Aussage dieser alten Hasen im Hotelgewerbe wussten sie von keinem.
In den folgenden Stunden schauten Cardinal und Delorme bei jedem Motel am Lakeshore vorbei. Keiner der Besitzermeldete einen vermissten Gast, und keiner erkannte Terri Tait auf dem Bild.
»Also, das hat Spaß gemacht«, sagte Delorme, als sie wieder das Ende an der Stadtgrenze erreichten.
»Sie könnte woanders gewohnt haben«, sagte Cardinal. »Wo wir noch nicht gewesen sind.«
»Sie hat gesagt, es war am See.«
»Einem, nicht
dem
See. Es gibt mehr als einen See, falls du’s noch nicht bemerkt hast.«
»Meinetwegen, aber wieso hat sie noch niemand vermisst gemeldet? Und sei es auch nur, damit sie die Rechnung bezahlt?«
»Motels tun sich oft schwer. Die rufen nicht bei jeder Gelegenheit die Polizei. Außerdem besteht ja noch die andere Möglichkeit …«
»Und die wäre?«
»Dass die Leute, bei denen sie gewohnt hat, diejenigen sind, die sie töten wollten.«
16
M artin Amis legte sein Notizbuch weg und nahm einen Schluck von seinem Bier. Er trug Blue Jeans im perfekten Used-Look und ein kühles weißes Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln. Es war Kevins Idee gewesen, das Interview im Gladstone Hotel durchzuführen. Der berühmte Romancier sollte ruhig merken, dass Toronto genauso hip war wie London oder New York. Hipper …
»Erzählen Sie uns doch bitte etwas über Ihre Arbeitsgewohnheiten, vorausgesetzt, Sie haben welche.« Martins Ton war locker, doch der Bariton mit gepflegtem Oxford-Akzent, ganz zu schweigen von seinen literarischen Leistungen, verlieh jeder Äußerung besonderes Gewicht. »Womit ich nur sagen will, dass Sie einen spielerischen Eindruck erwecken. Man stellt sich vor, dass Kevin Tait seine Verse im Flugzeug auf Servietten kritzelt oder auf ein Knöllchen unter dem Scheibenwischer.«
»Na ja, da ist sogar was dran«, sagte Kevin. »Ich bin dafür bekannt, dass ich vielleicht mal eine Idee auf eine
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