Kalter Mond
wir fahren.«
»Wir?«
»Ich werde sie wohl oder übel begleiten. Dabei sein, wenn sie ihr diese Kugel aus dem Kopf holen.«
»Sicher. Indizienkette und all diese Dinge. Aber Sie müssen sich ranhalten. Je schneller sie in den OP kommt, desto besser.«
Mit einer elektrischen Haarschneidemaschine rasierte Dr. Fortis dem Mädchen eine kleine Stelle an der Schläfe kahl. Um ihren Mund spielte ein friedliches Lächeln, ansonsten zeigte sie keinerlei Reaktion.
»Vollkommen runde Eintrittswunde«, stellte Cardinal fest. »Keine Brand- oder Schmierspuren, kein Tätowierungseffekt.«
»Dieser Schuss wurde auf keinen Fall aus einem halben Meter oder einer noch kürzeren Distanz abgefeuert«, sagte Jerry. »Ich hoffe, Sie finden den Kerl, der den Finger am Abzug hatte. Sagen Sie Bescheid, wenn ich irgendwie helfen kann. Ich fahr dann mal nach Hause und genieße, was von meinem freien Tag noch übrig ist.« Er winkte dem Mädchen zu. »Machen Sie’s gut, Red.«
Das Lächeln des Rotschopfs war wie festgefroren. Das krampfvorbeugende Präparat zeigte erste Wirkung.
Cardinal rief zwischendurch Detective Sergeant Daniel Chouinard zu Hause an.
»Was gibt’s, Cardinal? Ich sehe gerade meine Lieblingsfolge von
Homicide
.«
»Die Serie läuft doch längst nicht mehr.«
»Bei mir zu Hause schon. Ich besitze die gesamten ersten drei Staffeln auf DVD. Hat was Beruhigendes, Cops zu sehen, die sich mit deutlich schlimmeren Problemen rumschlagen als ich.«
Cardinal erzählte ihm von dem Mädchen.
»Also, da müssen Sie nach Toronto, um dabei zu sein, wenn sie diese Kugel rausholen. Sonst noch was?«
»Das war’s.«
»Gut. Dann geh ich mal wieder und schau mir an, wie diese Großstadtcops ihre Fälle lösen.«
Bob Collingwood von der Spurensuche traf wenige Minuten später im Krankenhaus ein. Er war der jüngste Detective im Dezernat und bei weitem der stillste. Er machte ein paar Polaroidfotos von der Wunde und gab sie Cardinal. Anschließend nahm er Proben mit einem GSR-Tupfer, einem flachen, klebrigen Gegenstand, der einem Zungenspatel glich, und drückte ihn sowohl auf die Handrücken der jungen Frau als auch zwischen ihre Daumen und Zeigefinger. Sie schien es nicht zu merken; es war, als hätte sie sich aus dem Zimmerverabschiedet. Collingwood steckte den Tupfer in einen Beutel, den er Cardinal ohne ein Wort überreichte, bevor er wieder verschwand.
Als Cardinal nach Hause kam, war seine Frau wegen ihrer eigenen Reise nach Toronto schon ziemlich aufgeregt, obwohl sie erst in einer Woche stattfinden würde. Catherine sollte eine dreitägige Exkursion in die Großstadt leiten, die sie mit ihrem Fotografiekurs an der Northern University unternahm.
»Ich weiß nicht, wie ich es bis nächste Woche aushalten soll«, sagte sie. »Sicher, es lässt sich in Algonquin Bay ganz gut leben, aber, seien wir ehrlich, es strotzt nicht gerade vor Kultur. Ich werde in Toronto tausend Fotos machen, ich werde phantastisch essen gehen, und ich werde jede freie Minute in den Museen zubringen und mir Kunst, Kunst und nochmals Kunst ansehen!«
Sie überprüfte ihre Kameras, reinigte sie mit einem Luftstrahl aus der Dose, polierte die Linsen. Zwei Fotoapparate waren das Mindeste, was Catherine auf Reisen mitnahm, doch es sah so aus, als hätte sie genug Objektive für fünf. Ihre Frisur war völlig zerzaust, so wie immer, wenn sie mit einem Projekt beschäftigt war. Sie nahm eine Dusche und vergaß über dem, was sie gerade gefangen nahm, anschließend ihr Haar zu föhnen.
»Ich wünschte, ich könnte jetzt gleich mit dir runterfahren«, sagte sie. »Aber ich muss morgen noch eine Stunde geben, und am Donnerstag ist Dunkelkammer-Workshop.«
Cardinal warf ein paar Sachen in eine kleine Reisetasche.
»Wo willst du denn wohnen?«, fragte Catherine.
»Im Best Western, auf der Carlton. Die haben immer was frei.«
Cardinal wühlte in der Kommode nach seinem Rasierapparat. Er benutzte ihn nur unterwegs, und zwischen zwei Reisen wusste er nie, wo er ihn hingelegt hatte.
Catherine rief die Auskunft für Toronto an und ließ sich die Nummer des Hotels durchgeben, während sie unentwegt weiter mit Cardinal plauderte. Im Fernsehen gingen gerade die Elf-Uhr-Nachrichten zu Ende, doch Catherine kam erst richtig in Fahrt.
Cardinal merkte, wie dieses alte, beklemmende Gefühl in ihm aufstieg. Seine Frau war schon zwei Jahre nicht mehr in der Klinik gewesen. Sie hatte alles bestens im Griff. Nahm pünktlich ihre Medikamente, machte regelmäßig Yoga,
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