Kalter Mond
Sorte.
Er lebte am anderen Ende des Flurs, auf dem auch Gloria und Raymond wohnten; sie begegneten sich oft im Fahrstuhl, grüßten einander auf Spanisch und tauschten sich über das Wetter aus, nicht viel mehr als das. Doch der alte Mann sah sie stets neugierig an, als ob er sie irgendwoher wiedererkenne. Als sie eines Tages auf den Fahrstuhl warteten, sagte Victor: »Wie ich sehe, sind Sie Anhängerin von Santeria.« Er deutete mit einem sehnigen Finger auf einen riesigen geschnitzten Armreif an Glorias Handgelenk.
»Ich zünde meine Kerzen an«, sagte Gloria. »Ich bitte hier und da um Führung.«
»Kennen Sie Mayombe?«
»Ja, ich hab einen Cousin, der
patrón
ist. Meine Eltern glaubten allerdings nicht daran, deshalb hab ich nicht viel darüber erfahren.«
»Trotzdem habe ich gesehen, dass Sie es sozusagen in der Familie haben.«
»Tatsächlich?«
»Die Augen Ihres Sohnes. Er hat die Art von Augen, die in die Zukunft sehen können.«
»Na ja, das stimmt, er weiß manchmal Dinge, die er eigentlich nicht wissen kann.« Sie sah Raymond an. »Selbst als kleiner Junge, Raymond. Selbst als du klein warst, hatten die Dinge, die du gesagt hast, oft die seltsame Angewohnheit, wahr zu werden. Ich weiß noch, wie du – vor vielen Jahren, damals in Havanna – auf die Mulattin Lena Lindo gezeigt hast und gesagt hast: ›Aber die ist tot, diese Frau.‹ Und am nächsten Tag war sie tatsächlich tot.«
»Das hab ich in einem Traum gesehen«, sagte Raymond. »Ich dachte, es wäre wirklich so.«
»Ja, natürlich«, entgegnete der alte Mann. »Natürlich hast du das. Aber jetzt will ich dir etwas sagen, etwas, das auch wahr ist: Eines Tages wirst du ein
patrón
sein.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Gloria. »Raymond ist kein religiös veranlagter Mensch.«
»Oh doch, das ist er, auch wenn er es vielleicht noch nicht weiß. Aber das sieht man an seinen Augen. Eines Tages wird er der mächtigste
patrón
sein, den wir je gesehen haben.«
Von dem Tag an kamen die drei sich näher. Vega entfaltete ein wohlwollendes Interesse an dem Jungen, er nahm ihn zu Blue-Jays-Spielen mit und brachte ihm bei, Autos zu reparieren und alle möglichen Motoren. Noch nie hatte Raymond von einem Erwachsenen so nachhaltig Aufmerksamkeit bekommen, und er blühte darin auf. Er verstand sich besser mit dem alten Mann als mit Jungen in seinem Alter, und Gloria freute sich, dass er Zeit mit jemandem aus ihrer Heimat verbrachte. So entstand eine enge Freundschaft zwischen den dreien.
Victor bezahlte Raymond oft dafür, dass er ihm bei seiner Arbeit half. Denn der alte Mann war nicht nur Medizinmann, sondern auch so etwas wie ein Gärtner für das Gelände um den Block. Von außen besehen, war sein Geräteschuppen nicht mehr als ein voll gestopfter Betonkasten mit einer Metalltür und einem Wellblechdach. Er war stets sorgfältig abgeschlossen, wenn Victor nicht drinnen war; niemand sonst hatte einen Schlüssel. Wäre irgendeiner der Teenager in der Nachbarschaft auf die Idee gekommen, einzubrechen, hätte er das gewöhnliche Sortiment an Gartenscheren, Rasenmähern, Heckenscheren, Handschuhen und Schläuchen gefunden.
Doch es brach nie jemand ein, und es würde wohl auch nie dazu kommen, da es in dem Schuppen so übel roch. Die ganze Rückwand entlang war säckeweise Schafs- und Kuhdung gestapelt, und im Sommer stank es zum Himmel.
Das war also Raymonds erster Eindruck – dieser atemberaubende Gestank, der einem entgegenschlug. Die Lungen verschlossen sich in einer Art Selbstschutzmechanismus, und es würgte einen im Hals. Die ersten paar Male, die er über die Schwelle trat, packte ihn gnadenlos die Angst – eine solch heftige Angst, dass es ihm den Magen umdrehte, noch bevor Victor das Hinterzimmer, das Geheimzimmer, seinen »Tempel« öffnete.
Sooft Raymond und Victor zusammen waren, sprach der alte Mann von Magie. Er lehrte ihn, dass man die Ereignisse in dieser Welt mit Hilfe von jenseitigen Geschöpfen zu beeinflussen vermochte. Dazu musste man lediglich wissen, wie man sie beherrschen konnte. Dieses Wissen, machte Victor ihm klar, konnte er vermitteln. Raymonds Interesse an Magie erwachte immer mehr, und er lag Victor in den Ohren, ihn zu unterrichten. Irgendwann erklärte sich Victor einverstanden, ihm seinen Tempel zu zeigen.
An diesem ersten Tag – Raymond war noch keine zwölf – hockte sich Victor neben ihn und packte ihn hart an der Schulter. Sein Atem roch nach Zwiebeln, doch das war nichts im Vergleich zu dem Gestank in
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